Murad ADZHI
Die
Kiptschak
Geschichte des Altertums des Turkvolkes
und
der
Großen Steppe
Ein Buch für Schulkinder und ihre Eltern
Moskau
Dieses Buch handelt vom Turkvolk: von seiner Herausbildung
im Altai und seiner Ausbreitung über den eurasischen Kontinent. Bilder-
und farbenreiche Legenden und Sagen künden von wenig bekannten Ereignissen
aus der Weltgeschichte der Menschheit, vom Leben und Weben des alten
Turkvolkes, von seinen Leistungen, Siegen und Niederlagen.
Solche Bücher hat es bisher noch nicht
gegeben.
© Murad Adzhi, 2002
© Internationale Wohltätigkeitsstiftung
„Heiliger Georg“ („Dshargan“), 2002
© www.adji.ru
Einführung
Was ist Volk?
Warum sprechen
wir so und nicht anders?
Was man unter den
Aufschichtungen der Zeit sieht
Entdeckung aus
einer stillen Studierstube
Worüber
Steine erzählen können
Die erste
Übersiedlung aus dem Altai
Wie der Alte
Altai entdeckt wurde
Fest der Tanne
Zeichnungen aus
dem Alten Altai
Wie eine
hervorragende Entdeckung gemacht wurde
Die Skythen – ein
rätselhaftes Volk?
Von Tengri
gegeben
Der Gott des
Himmels
Das Turkvolk in
Indien
Das Turkvolk im
Iran
Der berühmte
Khan Erke
Straßen,
die in die Steppe führten
Die Große
Völkerwanderung
Khan Aktasch
Am Idel
Im Kaukasus
Das Turkvolk und
das Christentum
Das Kreuz
über Europas Kirchen
Das Turkvolk und
Byzanz
Kaiser
Konstantins Hinterlist
Die Schlacht um
den Don
Das Turkvolk in
Europa
Das heuchlerische
Rom
Europas
Anfänge liegen im Altai
Attila, der
Führer des Turkvolkes
Das Turkvolk, wie
es der Byzantiner Priskos sah
Die Schlacht
gegen die vereinigte Armee Europas
Attilas Tod
Ein neues
Descht-i-Kiptschak
Beilage
Unsere Heimat ist die Steppe …
… und unsere Wiege der Altai
Einführung
Die Turksprachen
werden von sehr vielen Menschen, von Milliarden, gesprochen, und dies
überall: vom verschneiten Jakutien bis zu Zentraleuropa, von Sibirien bis
zum sonnigen Indien. Selbst in Afrika gibt es Siedlungen, in denen man eine
Turksprache sprechen hört.
Groß und
ungewöhnlich ist die Welt des Turkvolkes. Den überwiegenden Teil
davon bilden die Türken. Sie leben in der Türkei, einem weiten Land,
das überall in der Welt bekannt ist: bekannt dank seinem Volk und dessen uralten
Sitten und Gebräuchen, bekannt für seine hohe und einzigartige
Kultur. Über sie wurden tausende Bücher und Aufsätze
geschrieben.
Über die
Tofalaren dagegen, die nur einige wenige Hundert zählen, kann nicht viel
erzählt werden. Sie leben in der dichtesten sibirischen Taiga, besiedeln
zwei bis drei Dörfer und sind kaum bekannt. Ihr Leben verlief
jahrhundertelang beinahe ohne Kommunikation mit anderen Völkern. Nichts
verunreinigte ihre Sprache.
Ja, die Welt des
Turkvolkes ist wirklich groß. Zudem sehr rätselhaft. Sie gleicht
einem Brillanten, dessen jede Facette ein Volk ist: die Aserbaidschaner,
Altaier, Balkaren, Baschkiren, Gagausen, Kasachen, Karaime, Karatschaier,
Kirgisen, Krim-Tataren, Kumyken, Tataren, Tuwiner, Turkmenen, Uiguren, Usbeken,
Chakassen, Tschuwaschen, Schoren, Jakuten – und noch sehr, sehr viele
Völker.
Die turkische Welt vereinigt viele Völker, die
miteinander verwandt sind und von denen ein jedes doch seine Besonderheiten
hat. Sie sprechen eine unverwechselbare Sprache, die eine besondere
Färbung von Lauten und Sinninhalten hat. Es kommt vor, dass ein und
dasselbe Wort bei verschiedenen Völkern einen ganz anderen Sinn hat. Und
das ist normal so, denn darin spiegelt sich die grenzenlose Vielfalt der
Turksprachen, ihre erstaunliche Schlichtheit und uralte Geschichte.
Das war jedoch
nicht immer so. Einst, in alten Zeiten, sprachen alle Turkvölker ein und
dieselbe, ihnen allen verständliche Sprache. Vor ungefähr 2000 Jahren
begann die Teilung ihrer Sprache in Dialekte, die nur einer engeren Gruppe
verständlich waren. Dennoch blieb die gemeinsame Sprache lange Zeit in
Gebrauch. Man sprach sie weiter, z. B. auf Märkten und Messen, zu denen
Kaufleute aus weiter Ferne kamen.
Diese gemeinsame
Sprache war die Urquelle der Literatursprache. Dichter und Erzähler
feilten in ihren Werken an jedem Wort, um dann die gesamte turkische Welt zu
ergötzen. Außerdem sprachen staatliche Beamte die gemeinsame
Sprache, wenn es galt, Truppen zu formieren oder Steuern einzutreiben. Ganze
Staaten sprachen und schrieben damals die gemeinsame Turksprache!
Wie ist das,
unterscheidet gerade die Sprache das eine Turkvolk von einem anderen? Liegt
nicht in der Vielfalt der Sprachen das Geheimnis jenes Brillanten, der die
„turkische Welt“ heißt?
Leider ist alles
unvergleichlich komplizierter.
Wie sich
herausstellt, gibt es auf unserem Planeten Völker, die heutzutage nicht
wissen, ja nicht einmal ahnen, dass sie Turkvölker sind. Feinde
versklavten sie einst und verboten ihnen unter Todesandrohung, ihre
Muttersprache zu sprechen. Und so vergaßen die Menschen sie. Mit ihr aber
auch die Ahnen und alles, was früher gewesen war. Sie wurden zu
Völkern ohne historisches Gedächtnis, die von sich selbst und von
ihrer wahren Vergangenheit nichts wissen.
Unglücklicherweise
kennt die Geschichte unseres Planeten auch solche Fälle.
Die Gesichter
dieser Menschen gleichen natürlich immer noch denen ihrer Ahnen (anders
konnte es gar nicht sein). Das sieht man am Beispiel der Österreicher und
der Bayern, der Bulgaren und der Bosnier, der Ungarn und der Litauer, der Polen
und der Sachsen, der Serben und der Ukrainer, der Tschechen und der Kroaten,
der Burgunder und der Katalanen. Beinahe sämtlich sind sie blauäugig
und haben helles Haar (wie die alten Turkvölker!) – und erinnern sich
nicht mehr an ihre Geschichte. Einfach erstaunlich.
Nicht wenig
Angehörige des Turkvolkes, die ihren Ursprung nicht mehr kennen, gibt es
unter den Amerikanern, Engländern, Armeniern, Georgiern, Spaniern und
Italienern. Besonders aber unter den Iranern, Russen und Franzosen. Auch sie
haben sich das Äußere des alten Turkvolkes ausgezeichnet bewahrt und
ebenfalls alles vergessen …
Eine traurige
Geschichte. Leider wurde sie traurig gemacht, genauer: nicht bis zu Ende
erzählt.
Einen besonderen
Raum nehmen darin die Kosaken ein, von denen es heißt, sie seien weder
ein Volk noch ein Stamm. Man weiß nicht recht, wo sie hingehören.
Ihre wahre Geschichte wird ebenfalls verheimlicht, statt ihrer entstehen alle
möglichen unglaublichen Märchen. Und so ist es gekommen, dass sich
die Kosaken gleichsam irgendwo an einer Kreuzung der Zeiten verlaufen haben:
Sie rechenen sich zu den Slawen, haben jedoch ihre Muttersprache, die zu den
Turksprachen gehört, noch nicht vergessen. In einigen Kosakensiedlungen
(Stanizas) sprechen sie im Alltag gerade diese alte Sprache. Allerdings nennen
sie sie schlauerweise nicht ihre Mutter-, sondern ihre „Familiensprache“.
Ich habe lange
darüber nachgedacht, warum die turkische Welt so wenig bekannt ist. Ein
Zufall? Keine einzige Sprache hat so viele Abarten und Dialekte wie die alte
Turksprache: In den Adern der Menschen fließt das gleiche Blut, sie haben
die gleichen Ahnen, die gleiche Geschichte, sprechen jedoch heute
unterschiedliche Sprachen und haben sich zu unterschiedlichen Völkern
entwickelt. Warum?
Eine Antwort
darauf habe ich gerade in der Geschichte, in grauer Vergangenheit gefunden.
Eben davon möchte ich erzählen. Das Buch „Die Kiptschak, oder die
Geschichte des Altertums des Turkvolkes“ ist der Anfang meiner Erzählung.
Fortgesetzt wird sie in zwei weiteren Büchern: „Die Oghusen, oder die
Geschichte des turkischen Mittelalters“ und „Die Neue Geschichte der
Turkvölker“.
Was ist Volk?
Auf unserem
Planeten leben viele Völker. Wie viele genau? Das ist ungewiss. Die einen
sagen, es seien viertausend, die anderen meinen, es seien doppelt so viele. Sie
zu zählen ist schwer, ja beinahe unmöglich, weil nämlich bis
heute nicht feststeht, was ein Volk ist. Welche Menschengemeinschaft kann so
genannt werden? Da gibt es verschiedene Standpunkte.
Die Menschen sehen
nur auf den ersten Blick alle gleich aus, in Wirklichkeit ist dem nicht so. Sie
haben viele Unterschiede, schon rein äußerlich. In den Staaten
Afrikas z. B. überwiegt eine Bevölkerung mit schwarzer Haut, in China
eine mit gelber und in den europäischen Staaten eine mit weißer
Haut.
Dabei leben sie
sämtlich auf unseren Planeten und sind unsere Zeitgenossen.
Selbstverständlich
unterscheiden sich die Menschen nicht nur äußerlich voneinander,
sondern auch in ihrem Charakter und Verhalten, ihrer Einstellung zum Leben, zu
den anderen Menschen. Es ist wahr, dass sich die Völker in einigen Dingen
gleichen, aber in anderen sind sie völlig unterschiedlich.
Oft werden die
Einwohner eines Landes als Volk bezeichnet. In Aserbaidschan etwa lebe das
aserbaidschanische Volk und in Georgien das georgische.
Demnach: so viele
Länder, so viele Völker?
Zum Teil stimmt
das. Die Menschen eines Landes haben dieselbe Umgangssprache, sie mögen
gleiche Lieder, Tänze, Feste, Trachten und Speisen. Sie haben eine
gemeinsame Religion und Geschichte. Das Wichtigste aber, das, was sie
vereinigt, ist das Heimatgefühl. Nach ihm urteilt man über Mensch und
Volk. Jeder Mensch und jedes Volk hat nur eine einzige Heimat.
Aber in Baku z.
B. leben auch Menschen, die nicht Aserbaidschanisch können und es nicht
als ihre Muttersprache empfinden oder sich nicht zu den Moslems zählen. Es
erhebt sich die Frage: Sind diese Menschen auch aserbaidschanisches Volk? Aber
selbstverständlich. Dazu gehören dort Russen, Juden, Georgier und
andere.
Ein Volk ist nicht
den Einwohnern eines Landes gleichzusetzen. Menschen können in ein und
derselben Stadt, ja auf demselben Hof wohnen, aber nach unterschiedlichen
Sitten leben.
Sind dann
vielleicht die Sitten und Traditionen das, was ein Volk ausmacht?
Ebenfalls ja und
nein. Ein Volk ist nicht einfach eine Gruppe von Menschen, die sich
zusammengeschlossen haben. Denn das allein genügt noch nicht, um ein Volk
zu bilden. Dazu müssen diese Menschen eine gemeinsame Geschichte, genauer:
gemeinsame Ahnen haben.
Das Werden eines
Volkes ist ein sehr langwieriger, jahrhundertelanger Prozess. Es handelt sich
um eine wirklich historische Erscheinung, die von sehr vielen Ursachen
abhängt. Diese können bisweilen völlig überraschend sein.
Gleich einer Baumfrucht, braucht ein Volk eine bestimmte Zeit, um zu reifen.
Auf welche Weise geschieht das? Davon weiß niemand etwas.
Schon in uralten
Zeiten lernten es die Menschen, sich die anderen genauer anzusehen, sie zu
beobachten. Allmählich erfuhr die Menschheit immer mehr von Leben und Kultur
anderer Völker, von ihren Beziehungen zueinander und ihrer
Unterschiedlichkeit. Viel später bildeten solche Kenntnisse eine ganze
Wissenschaft. Sie heißt Ethnografie
(„Ethnos“ bedeutet auf Griechisch soviel wie „Volk“, „Stamm“). Ethnografie ist
also die Wissenschaft von Völkern, die Völkerkunde.
Die Entstehung
der Ethnografie ist kein Zufall. Es wurde schon vor langer Zeit bemerkt, dass
Hader und Kriege innerhalb eines Landes oder zwischen Nachbarländern wegen
Meinungsunterschiede ausbrechen. Und Meinungsunterschiede wurzeln manchmal
darin, dass man die Sitten und Gebräuche der Nachbarn nicht kennt. Dabei
reagieren alle Menschen sehr empfindlich, wenn ihre Traditionen missachtet
werden; kaum jemand kann da gleichgültig bleiben.
Eben deshalb ist
die Ethnografie so wichtig: Sie hilft den Frieden auf Erden bewahren. Solche
Kenntnisse bilden die Grundlage der Freundschaft! Manchmal genügt schon
ein Wort oder eine wohlmeinende Geste, damit ein Nachbar dem anderen
zulächelt, ihn versteht und ihm die Hand reicht.
Und wenn ein
Mensch einem anderen zulächelt oder ihm zu einem Fest gratuliert, wird das
Leben für beide lichter und leichter. Diesem Ziel eben dient die
Ethnografie: Sie lehrt die Menschen das Nebeneinanderbestehen mit anderen
Menschen.
„Salam alaikum“,
sagt etwa ein Georgier einem Aserbaidschaner.
„Gamardshoba“,
antwortet ihm der Aserbaidschaner, wodurch er zeigt, dass er die georgischen
Sitten achtet.
Und die Erde wird
von ihren guten Grußworten und ihrem Lächeln wärmer.
Warum sprechen wir so und nicht anders?
Dennoch
unterscheiden sich die Völker der Welt in erster Linie natürlich
durch ihre Sprache voneinander. Sprache und Schrifttum sind das Wichtigste im
Leben der Menschen. Wie man etwas sagt, so wird man auch verstanden: Worte
übermitteln die Gedanken der Menschen.
Jedes Volk hat
seine schriftliche und mündliche Sprache, seine Art zu sprechen und zu
denken. Für die Ethnografie ist auch das von Bedeutung. Davon, wie die
Sprachen entstanden, kündet eine Sage. Sie stammt aus dem grauen Altertum,
da es noch keine Wissenschaft gab.
Vor sehr, sehr
langer Zeit sprachen alle Menschen ein und dieselbe Sprache, behauptet die
Sage. Sie verstanden einander ohne Dolmetscher. Einmal aber geschah eine
katastrophale Überschwemmung, die die ganze Erde überflutete: die
Sintflut, der nur einige wenige entgingen. Um nicht wieder von einer Sintflut
überrascht zu werden, gingen die Menschen daran, zu Babel einen Turm zu
bauen, um bis zum Himmel steigen zu können. Dadurch luden sie den Zorn der
Götter auf sich, und diese zerstörten den Turm. Damit sich die
Menschen aber nicht über einen neuen Turmbau einigten, wurden ihre
Sprachen vermischt und über die ganze Erde verstreut. Seitdem kannte jedes
Volk nur seine eigene Sprache. So sollen auch die Völker entstanden sein.
Natürlich
ist das nur eine Sage … Doch wurde sie nicht zufällig erdacht. Darin sahen
die Menschen eine Erklärung dafür, warum sich die einen Stämme
und Völker von den anderen unterscheiden, warum die einen die Sprache der
anderen nicht verstehen. Lange Zeit hindurch genügte den Menschen eine
solche Erklärung.
Einer Sage nach
fand sich ein Volk dorthin versetzt, wo hohe Berge von dichtem Nadelwald
bedeckt sind, glitzernde Flüsse in kristallklare Seen münden und der
Himmel am höchsten und reinsten in der Welt ist. Diese Region heißt
Altai. Der schönste Ort auf der Welt. Auch der einzige, der den
Angehörigen dieses Volkes ans Herz gewachsen war.
Was bedeutet das
Wort „Altai“? Einige übersetzen es heute wie „Goldene Berge“. Das stimmt
jedoch nicht. Das alte Turkvolk verstand es anders und nannte den Altai, d. h.
seine, richtiger: unsere Heimat, „Land der Ahnen“ oder auch „Göttliches
Land“.
Die Sprache, die
hier schon im Altertum gesprochen wurde, war eben die Turksprache. Zu den ersten, die sie vernahmen, gehörten die Chinesen.
Gerade die
Chinesen notierten sich als Erste das Wort „Turk-“als „tiukiu“, was in ihrer
Sprache soviel wie „stark“, „kräftig“ bedeutete. So schrieb man einst
über Chinas nördliche Nachbarn: über die Altaibewohner, die
durch ihr ungewöhnliches Aussehen alle in Erstaunen setzten. Sie waren
hellhaarig und blauäugig und zeichneten sich durch Stärke und
Kriegskunst aus.
Außerdem
nannten die chinesischen Weisen die Altaier „tie-lie“. Allerdings nicht alle
Altaier, sondern nur jene, die ein den Chinesen „bekanntes“ Äußeres
– dunkle Haare und Augen wie bei den Chinesen selbst – hatten.
Diese schon im
Altertum bemerkten Unterschiede unter den Angehörigen des Turkvolkes haben
sich bis heute erhalten. Seit jenen alten Zeiten lebt das Wort „Turk-“ in der
Geschichte der Völker fort. Die Chinesen hörten es natürlich von
den Angehörigen des Turkvolkes selbst, sprachen es allerdings auf ihre
eigene Weise aus. Es ist so, dass jedes Volk ein Wort, das es aus einer anderen
Sprache übernimmt, gewöhnlich umwandelt, um es der eigenen Aussprache
anzupassen.
Folglich sprechen
verschiedene Völker selbst einige Laute unterschiedlich aus!
Was man unter den Aufschichtungen der Zeit sieht
Für
Ethnografen sind die Nachrichten der chinesischen Chronisten
selbstverständlich von hohem Interesse. Doch dürfen sich die
Wissenschaftler darauf allein nicht verlassen.
Chroniken neigen,
gleich Menschen, zu Übertreibungen. Das stimmt leider wirklich. Selbst der
ehrlichste Mensch übertreibt bisweilen stark; gegen den eigenen Willen
irrt er sich, weil er gewisse Einzelheiten eines Ereignisses nicht kennt. Ganz
besonders aber dann, wenn er Gerüchte glaubt.
Auf eben diese
Weise aber schrieben die alten Chinesen: Sie stützten sich auf
Gerüchte. Sie wussten vom alten Turkvolk sehr wenig, im Grunde so gut wie
nichts. Sie verließen sich auf Märchen und Erdichtungen. Denn das
Turkvolk war damals in die chinesischen Lande eingefallen und hatte sie sich
unterworfen. Das verursachte in China eine große Unruhe.
Die riesige
chinesische Armee – der Stolz der Kaiserdynastien Yin und Zhou – musste vor dem
turkischen Heer weichen, China sich fügen und einen Tribut zahlen. Wohl
daher kam das für das Nachbarvolk so ungewohnte Wort „Turk-“, d.h.
„kräftig“, „sehr stark“, auf. Anders gesagt: „unbesiegbar“. Wollten die
Chinesen vielleicht ihre Niederlage auf diese Weise rechtfertigen?
Alte Chroniken
enthalten oft sehr aufschlussreiche Nachrichten über Ereignisse, Menschen,
das Aufkommen dieser oder jener Bezeichnungen. Das ist selbstverständlich
schon an sich interessant. Doch die Ethnografie hat andere Forschungs- und
Erkenntnismethoden, dazu ist sie ja eine Wissenschaft.
Die Chinesen
schrieben z. B. über Unterschiede im Äußern der
Angehörigen des Turkvolkes. Wie können aber diese Nachrichten
überprüft werden? Im Alten Altai siedelten, wie sie behaupten,
hellhaarige und blauäugige Menschen, auf chinesisch „tiukiu“ oder
„ding-ling“. Menschen, die so aussahen, lebten in China bekanntlich nicht. Ein
Chronist schrieb sogar, diese „tiukiu“ sähen kleinen Äffchen gleich.
Über andere Vergleiche verfügte er nicht (in Südchina gab es
blauäugige Äffchen). Das Staunen der Chinesen ist begreiflich: Sie
hatten Menschen mit solchen Gesichtern bis dahin niemals gesehen. Eben deshalb
betonten die alten Autoren ihr Aussehen, sobald sie über das Turkvolk
schrieben.
Über einen
anderen Teil des Turkvolkes, die „tie-lie“, die im Ostaltai lebten, schrieben
die Chinesen ganz anders. Auf das Aussehen dieser Menschen gingen sie gar nicht
ein, weil es ihnen gewohnt war.
Ein Volk mit
zweierlei Gesichtern?! Doch, das stimmt.
Gegenwärtig
haben die Wissenschaftler die Richtigkeit der Beobachtungen chinesischer
Chronisten glänzend bestätigt. Das tat das Akademiemitglied Michail
Michajlowitsch Gerassimow, ein hervorragender Wissenschaftler. Nach
Schädeln und anderen Knochen aus altertümlichen Bestattungen
vermochte er die Gesichter und Gestalten längst toter Menschen zu
rekonstruieren. Ihm gelangen auch noch so geringe Details eines Porträts.
Wie?! Auch hier
eine Wissenschaft? Selbstverständlich! Sie heißt Anthropologie. Und sie ist manchmal imstande, Wunder zu wirken.
Die von
Akademiemitglied Gerassimow geschaffenen Plastiken wirken dank ihrer
erstaunlichen, ja erschütternden Genauigkeit verblüffend. So hat uns
der Wissenschaftler beispielsweise das Äußere bedeutender
Persönlichkeiten der Vergangenheit wiedergegeben: des russischen Zaren
Iwan Grosny, des russischen Admirals Uschakow, des großen turkischen
Astronomen Ulugbek.
Einige seiner
genialen Skulpturen hat Michail Gerassimow nach Schädeln rekonstruiert,
die in den Kurganen – den alten turkischen Hügelgräbern – gefunden
wurden. Er hat turkische Gesichter wiederhergestellt. Und nun wissen wir, wie
unsere Ahnen aussahen. Beim Anblick dieser einzigartigen Plastiken muss man
immer wieder staunen. Denn solche Gesichter sieht man auch heute in den
Straßen von Städten und Dörfern. Gott sei Dank hat sich nichts
verändert! Freilich gibt es doch ein paar Veränderungen in den
turkischen Gesichtern, und zwar recht auffällige Veränderungen. Doch
davon etwas später.
Jetzt aber wollen
wir herausfinden, wie und wann sich das Turkvolk auf dem Altai ansiedelte.
Entdeckung aus einer stillen Studierstube
So schön die
Sage vom Turm zu Babel auch sein mag, die Wissenschaftler konnte sie doch nicht
ganz überzeugen. Sie legen Wert auf Genauigkeit, doch damit können
alte Sagen nicht aufwarten. Die Ereignisse sind darin undeutlich,
„verschwommen“ dargestellt. Deshalb wandten sich die Ethnografen an
Archäologen.
Die Archäologie ist Altertumskunde, sie erforscht die Geschichte der Gesellschaft
nach materiellen Spuren des menschlichen Lebens und stellt fest, wo und wie die
Menschen vor Jahrtausenden lebten. Nach den Ruinen altertümlicher
Städte, nach Grabstätten, verlassenen Höhlen, kaum sichtbaren
Felsenzeichnungen oder nach Geschirrscherben führen die Archäologen
ihre eigene geduldige Suche durch, um Bilder der Vergangenheit zu
rekonstruieren.
Der Alte Altai
zieht seit langem die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf sich. Hier wurden
in den menschenleeren Weiten im 18. Jahrhundert völlig zufällig
Spuren altertümlicher Siedlungen entdeckt: kolossale Kurgane, Grabsteine,
Überreste von Palästen und Skulpturen, wie es sie in keinem anderen
Land der Welt gibt.
Überraschend
für die Wissenschaftler waren auch die hiesigen Felsen mit ausdrucksvollen
Zeichnungen und rätselhaften Schriftzeichen, die altertümliche
Künstler einst hier hinterlassen hatten. Alles hat sich ausgezeichnet
erhalten! Und nichts davon wurde bis dahin erforscht.
Welchem Volk
gehörten jene kostbaren Schätze? Wer besiedelte diese verlassenen
Territorien? Die Fragen blieben lange Zeit unbeantwortet. Der Altai schien eine
geheimnisvolle Schatzinsel im Zentrum Asiens zu sein, und Rätsel umwehten
ihn wie ein Nebelschleier.
Mehr als hundert
Jahre lang versuchten europäische Wissenschaftler, das anscheinend
unlösbare Rätsel des Altai zu lösen. Vergebens! Die besten
Köpfe der Archäologie konnten nicht einmal die Andeutung einer
Antwort finden. Und so beschlossen die Wissenschaftler, dass die „toten“ Schriftzeichen
einem verschwundenen Volk gehört hätten und unlesbar seien.
Das Geheimnis
umhüllte nach wie vor den Alten Altai. Die Spuren seiner Bewohner lagen
gleichsam offen, man fand immer mehr davon, aber mehr Klarheit brachten diese
Funde nicht. Das unsichtbare Volk bewahrte seine Geheimnisse beharrlich.
Als Erster las
der hervorragende Wissenschaftler aus Dänemark Professor Wilhelm Tomsen
die geheimnisvollen Zeilen an den Wänden von Altaifelsen. Er war nicht
Archäologe, sondern vielmehr ein ausgezeichneter Linguist.
Linguistik ist die Wissenschaft, die die Sprachen der
Völker der Welt erforscht, sowohl alte als auch heutige Sprachen. Die
Sprachwissenschaft hat ebenfalls nicht wenig zur Lösung von Rätseln
des Turkvolkes beigetragen. Aber ihr letztes Wort hat sie noch nicht gesprochen.
Die Linguistik hat enorme Perspektiven, ihre Entdeckungen stehen noch bevor.
Professor Thomsen
tat das, was keiner der Archäologen geschafft hatte. Freilich geschah
alles still und alltäglich: in einem Studierzimmer und weit vom Altai
entfernt.
Am 15. Dezember
1893 machte er in Dänemark seine Entdeckung, und sie schlug wie eine Bombe
ein. Professor Thomsen legte damals der Königlichen Wissenschaftlichen
Gesellschaft Dänemarks einen Bericht vor, und so erfuhr die Welt vom
wichtigsten Geheimnis des Alten Altai: von einem Volk, das als „tot“ galt. Der
Professor entzifferte glänzend die geheimnisvollen Inschriften an
altaischen Felsen und stellte fest, dass sie zu einer Turksprache
gehörten!
Alles schien mit
einem Mal klar zu sein. Der Alte Altai ist die Heimat des Turkvolkes, seine
Wiege.
Niemand
versuchte, die Schlussfolgerungen von Professor Tomsen zu bestreiten, so
überzeugend und unbestreitbar waren sie. Doch beeilte man sich auch nicht,
ihnen zuzustimmen. Im Ergebnis kam es so, dass es zwar einen Bericht und eine
Entdeckung gab – und doch gleichsam gar nicht gab.
Später
wurden chinesische Chroniken gefunden, die ebenfalls vom Turkvolk des Alten
Altai sprachen. Man sollte meinen, der Schleier des Geheimnisses um die
turkische Geschichte sei schon im 19. Jahrhundert gelüftet worden. Aber
das Gegenteil war der Fall, und zwar deshalb, weil sich in die Arbeit der
Wissenschaftler Politik sowie Leute einmischten, die die Wahrheit zu verbergen
suchten.
Worüber Steine erzählen können
Einigen
Politikern geht es darum, die Geschichte zu entstellen. Sie haben ihre eigene,
verfälschte Vorstellung von der Vergangenheit. Die Wahrheit bringt solchen
Leuten meist nur Schaden. Sie interessieren sich nur für Politik, und zwar
eine, die sie selbst in einem günstigen Licht darstellt. Und so taten sie,
als hätten sie die von Professor Tomsen einwandfrei entzifferten
Inschriften gar nicht bemerkt.
Natürlich
hatten sie ihre eigenen Gründe. Die Politiker zweifelten, warteten auf
weitere Forschungsergebnisse – und hatten gewissermaßen Recht. In der Tat
kann man, bevor man die Fragen, wie und wann das Turkvolk den Altai besiedelt
hatte, nicht beantwortet, auch nicht von seiner Geschichte sprechen.
Die
Archäologen forschten also in den Zeiten, da es noch keine Völker gab
und das Turkvolk noch kein Turkvolk war, weil es keine Turksprache hatte: Die
Menschen konnten damals noch nicht sprechen und erklärten sich mit Hilfe
von Gesten und einzelnen Lauten. Überall auf unserem Planeten lebten
damals halbwilde Stämme.
Wie sich aus
archäologischen Funden ergibt, tauchten urgeschichtliche Stämme vor
ungefähr 200 000 Jahren im Altai auf. Sie waren von Süden, von
Indochina aus hergezogen. Dort wurden die ältesten Menschensiedlungen
Asiens gefunden, die etwa eine Million Jahre alt sind.
Die Spuren der
Urmenschen Asiens, Amerikas und Europas sind, wie sich herausstellt, ab
Indochina zu verfolgen. Dort war das „gelobte Land“, dort entstand der
größte Teil der Menschheit: aller Mongoliden und Europiden.
Was zog die
Urmenschen am Altai an? Wir können da nur Vermutungen anstellen. Die
schöne Natur? Wenig wahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist etwas
anderes: Das Gebirge bot mehr Sicherheit und mehr Nahrung.
In jenen fernen
Zeiten unterschieden sich die Menschen nicht so sehr von Tieren. Sie hatten
keine Arbeitsinstrumente, konnten sich nur schlecht vor Raubtieren
schützen. Deshalb lebten sie im Gebirge oder in einem dichten Wald, das
heißt dort, wo sie eine Chance zum Überleben hatten und sich in
einer gefährlichen Stunde nur dank ihrer Gewandtheit retten konnten.
Vor 200 000
Jahren kam also der erste Mensch in den Altai. Das ist lange her. Dank
Archäologen wissen wir recht viel vom Leben der fernen Ahnen.
Beispielsweise wie sie aussahen, womit sie sich befassten, welche Behausungen
sie hatten, auf wen sie Jagd machten und welche Kleidung sie trugen.
Diese Kenntnisse
verdanken wir der unbezähmbaren Energie des Akademiemitglieds Alexej
Pawlowitsch Okladnikow, eines großen Archäologen. Man hat den
Eindruck, dass er durch die Berge des Alten Altai hindurchsehen konnte, dass
sein Blick die Aufschichtungen von Erde und Zeit durchdrang.
Begonnen hatte
aber alles mit einer scheinbaren Kleinigkeit.
Einmal ging
Alexej Okladnikow, ein sehr origineller Wissenschaftler, im Park der Stadt
Gorno-Altaisk spazieren. In Gedanken versunken, verfolgte er einen Pfad entlang
des Flusses Ulalinka. Plötzlich fiel sein Blick auf einen kleinen Stein,
einen von denen, die am Ufer überall herumlagen. Ein Stein wie die anderen
auch. Okladnikow blieb stehen und hob ihn auf. Dieser Augenblick machte ihn zu
einem Wissenschaftler, der Millionen Menschen ein Begriff ist.
Jener Stein war
nämlich ein urgeschichtliches Werkzeug!
Tausende Menschen
waren über diesen schmalen Weg gegangen, hatten jedoch den Stein
übersehen. Erst Alexej Okladnikow bemerkte ihn, weil er zum
Archäologen geboren war. Archäologie war seine Berufung, er wusste
und konnte sehr viel. Der Fund war kein Zufall, sein ganzes Leben war die
Vorbereitung darauf.
Weder Wasser noch
Frost können einen Stein so gestalten, wie das ein Mensch zu tun vermag.
Eine erstaunliche Wissenschaft, diese Archäologie, sie gibt die
Möglichkeit, sich über einen gewöhnlichen Stein zu freuen: weil
nämlich vor Jahrtausenden die Hand eines anderen Menschen diesen Stein
berührt hatte. Wie man sieht, überdauert die Wärme einer solchen
Berührung viele Jahrhunderte.
Später kam
eine archäologische Expedition ans Ulalinka-Ufer. Ausgrabungen wurden in
Angriff genommen, ihr Leiter war Alexej Okladnikow.
Im Stadtpark
spielte abends nach wie vor eine Blaskapelle, Menschen kamen her, um sich zu
erholen, und vor den Augen des erstaunten Publikums buddelten die
Archäologen in einer verlassenen Höhle. Wie sich später
herausstellen sollte, handelte es sich dabei um das älteste Lager des
Urmenschen im Altai. Es wurde freigelegt und nach dem Namen des hiesigen
Flusses Ulalinskaja genannt.
Bald wurden im
Altai andere urgeschichtliche Lager entdeckt. Auch dort fand man Beile, Messer,
Pfeil- und Speerspitzen aus Stein, die von den Urmenschen hergestellt worden
waren. Allmählich erfuhr man immer mehr vom Alten Altai und seiner
Geschichte.
So mancher Fund
war einzigartig, selbst namhafte Wissenschaftler staunten. An solchen Funden
war alles ungewöhnlich, alles anders als in anderen Stationen der
Urmenschen. So waren die Steinmesser und -dolche scharf wie eine Rasierklinge.
Mit ihnen hätte man sich rasieren können.
Ein Stein, der
schärfer als eine Rasierklinge ist? So etwas schien unglaubwürdig,
und doch wurden hier solche Steine gefunden. Die Urmenschen des Alten Altai
hatten gerade solche ungewöhnlich scharfen Messer gefertigt. Die
Wissenschaftler stritten viel darüber und äußerten zahlreiche
Zweifel. Ein Mensch von heute kann so etwas nicht mehr anfertigen. Es sei denn,
er hat Instrumente und sehr präzise funktionierende Werkzeugmaschinen.
Die Altaier aber
hatten das ohne Instrumente und Werkzeugbänke geschafft! Auf welche Weise?
Nun, das war ganz einfach. Freilich mussten sich die Archäologen an
Physiker wenden, um diese geniale Einfachheit zu verstehen. Gemeinsam
experimentierten sie, und gemeinsam fanden sie die Wahrheit heraus.
Wie wir heute
wissen, wandten die Altaier – im Unterschied zu allen anderen Urmenschen
unseres Planeten – nicht die Zuschlag- oder die Anschlagtechnik an, bei der ein
Stein mit einem anderen behauen wird. Vielmehr bearbeiteten sie Steine mit
Feuer und Wasser. Deshalb hatten ihre Werkzeuge nicht ihresgleichen in der
Welt.
Nicht jeder Stein
hielt einer so harten Bearbeitung stand. Es eignete sich nur der Nephrit, ein
seltenes grünliches Mineral mit schwarzen Schlieren, das sehr hart ist. Im
Altai gibt es Nephritlagerstätten, und die altertümlichen
Höhlenbewohner wussten das.
Die Entdeckung
der Wissenschaftler bewies, dass das Gebirge für die Bewohner des Alten
Altai außer allem anderen auch eine wahre Schatzkammer war. Folglich sind
die Altaier die ältesten Geologen der Erde. Sie lernten es als Erste,
Bodenschätze, die sich für die Anfertigung von Steinwerkzeugen
eigneten, zu finden und zu gewinnen.
Die Geologie entstand folglich bei den
Altaiern.
Die erste Übersiedlung aus dem Altai
Das Leben in den
Höhlen des Alten Altai dauerte tausende und abertausende Jahre, und in all
dieser langen Zeit veränderte sich faktisch nichts: Immer noch sicherten
Jagd und Fischerei den Menschen die Nahrung.
Und doch
zeichneten sich Veränderungen in jenem träge dahinfließenden
Leben ab: Die Archäologen erkennen den Puls der Veränderungen in der
Zeit dank ihren Funden.
So haben die
Wissenschaftler das Aufkommen von kleinen Gegenständen aus Metall
festgestellt. (Das war Bronze, eine Legierung aus Kupfer und Zinn.) Folglich
begann im Alten Altai die Bronzezeit, von der die Steinzeit abgelöst
wurde.
Natürlich
fanden die Menschen nicht an einem Tag und nicht einmal im Laufe eines Jahres
heraus, dass Metall fester als Stein ist. Pfeil- und Speerspitzen aus Bronze
bestanden im Hausrat der Altaier lange Zeit neben Steinwerkzeugen. Das zeugte
von vielem. Unter anderem davon, dass sich das Leben der Altaier
tatsächlich unaufhaltsam veränderte: Kolossale Veränderungen
traten ein. Denn mit Bronzeäxten konnten z. B. Bäume gefällt
werden!
Ja, ist das denn
so wichtig, dass man Bäume fällen kann? Doch, denn dahinter steckt
sehr vieles. In erster Linie der Umstand, dass das Leben der Menschen nicht
mehr urzeitlich primitiv war und allmählich aufhörte, von
Wetterlaunen abzuhängen. Der Mensch war aus der Höhle hervorgetreten.
Er konnte nun seine Wohnstätte wählen, und ging daran, sich Wohnungen
zu bauen.
Ein ohne jede
Übertreibung hervorragendes Ereignis. Die Menschen lernten zu jener Zeit
also, sich warme Behausungen aus Baumstämmen zu bauen. Sie brauchten
Jahrzehnte dazu, aber Häuser aus Baumstämmen waren ein Riesenschritt
vorwärts, zum Progress. Ein solches Haus hieß Kuren.
Es handelt sich
dabei um eine besondere Wohnstätte: noch kein richtiges Haus, aber schon
keine Höhle und keine Laubhütte mehr. Noch hatte ein Kuren weder
Fenster noch Türen, noch Holzboden, nur eben die Wände und ein
Kegeldach. Der Bau wurde von allen Seiten mit Erde angeschüttet oder,
umgekehrt, in die Erde vertieft. Von oben (im Grundriss) sah ein Kuren
achteckig aus. Der Eingang wurde an der Ostseite angebracht (und das sollte
eine Tradition des turkischen Hauses für Jahrhunderte werden!). Als
Türen dienten Felle, der Boden wurde mit trockenem Gras oder mit Heu
bestreut. In der Mitte des Kuren war eine Feuerstelle, der Herd, deshalb hatte
das Dach ein spezielles Loch für Rauch und Licht. Selbst bei strengem
Frost hielten die Kurens warm.
Die Menschen
bauten ihre neuen Unterkünfte überall, in jeder Gegend, die ihnen
zusagte. Dadurch unterscheidet sich ein Kuren von einer Höhle, die von der
Natur geschaffen und deshalb nicht zu verlegen war.
Im Prozess des
Baus von Kurens, genauer: von neuen Ansiedlungen, breiteten sich die Menschen
langsam über die Altaitäler aus. Sie ließen sich dort nieder,
wo die Natur reich und die Jagd vielversprechend, das Leben also leichter war.
Niemand in der
Welt baute damals Unterkünfte aus Baumstämmen, weil das noch niemand
konnte. Baumstammhäuser waren eine unbestreitbare Erfindung der Altaier.
Eine großartige Erfindung, die die Urmenschen in die weite Welt
hinausführte.
Damals zogen
einige Stämme aus dem Altai gen Norden, zum Uralgebirge. Doch kann nicht
behauptet werden, dass gerade Angehörige des Turkvolkes den Ural
besiedelten. Nein, denn vor 5000 Jahren, als die ersten „altaischen“
Ansiedlungen weit vom Altai entfernt aufkamen, gab es noch kein Turkvolk. Das
war noch zu früh, die Frucht war noch nicht reif.
Für den
Verkehr miteinander verfügten die Altaier nur über ein paar Dutzend
Worte. Ihre Sprache ähnelte dem Vogelgezwitscher, war viel zu einfach, um
sie als Umgangssprache zu bezeichnen. Einzelne Laute, Gesten, selbst ganz
einfache Wörter machen noch keine Sprache aus. Das sind erst die Keime
einer Sprache. Jahrhunderte mussten vergehen, ehe sich die Sprache formte und
das Reden fließend wurde.
Als die Altaier
in den Ural einzogen, brachten sie auch ihre Kenntnisse mit. Das ist
völlig natürlich. So bauten sie dort ihre gewohnten Kurens, weil sie
keine andere Art von Behausungen kannten.
Neue Dörfer und
Siedlungen entstanden ebenfalls in Wäldern und an Flussufern. Ihre Spuren
haben sich erhalten. Sie sind den Altaier Siedlungen erstaunlich ähnlich,
ja beinahe mit ihnen identisch. Das bezieht sich auch auf den Hausrat, die
Arbeitswerkzeuge und vieles andere.
Archäologen
haben im Ural sogar verlassene Städte jener Epoche gefunden. Folglich
hatte es, wie geschlussfolgert werden kann, ähnliche Städte auch im
Altai gegeben. Und das stimmt tatsächlich: Altertümliche Altaier
Städte sind bekannt, wenn sie auch, wie man leider feststellen muss, von
niemandem erforscht worden sind.
Dabei bestanden
sie wirklich!
Im Ural ist
Arkaim die bis heute am besten erforschte Stadt. Nach allem zu urteilen, ist
sie 5000 Jahre alt. Dort lebten geschickte Metallwerker. Sie gewannen Kupfer
und Zinn und gossen Bronze daraus. Beinahe in jedem Hof von Arkaim gab es
Schmelzöfen. Tag und Nacht lohte Feuer darin. Die Uraler beförderten
ihre Ware zum Altai.
Wer lebte in
Arkaim? Welches Volk hatte die Stadt gebaut? Gestritten wird viel darüber,
aber Klarheit besteht nicht. Dabei lebten dort offensichtlich Übersiedler
aus dem Altai.
Stämme aus
dem Altai siedelten im Ural als geschlossene Kolonien. Darauf wanderte ein Teil
von ihnen weiter westwärts, wo das Klima milder und die Natur üppiger
war. Jede Kolonie beziehungsweise jeder Stamm (noch kein Staat, lediglich ein
künftiger Staat bzw. ein künftiges Fürstentum!) suchte nach
einem bequemen Stück Land, um sich dort für Jahrhunderte
niederzulassen.
Nicht
Straßen, sondern Tierpfade führten die Stämme vom Altai
auseinander, und so besiedelten sie allmählich den unbewohnten Teil
Nordeuropas. Es begann eine langsame Abtrennung und Entfernung der einen
Stämme von anderen. Das ist ein langwieriger, wenig auffälliger
Vorgang.
Im Laufe von
Jahrhunderten erfuhren die Umgangssprache wie auch die Lebensweise der Menschen
Veränderungen. Das frühere, einfache Reden (mit Überwiegen von
Gestik und Mimik) wurde komplizierter, Laute bereicherten es, aber
verständlich war es nur für die Menschen des gleichen Stammes.
Es ist
erstaunlich: Menschen, die bis dahin nur eine, wenn auch unkomplizierte Sprache
gekannt hatten, vergaßen einander. (Ist an der Sage vom Turm zu Babel
also doch etwas Wahres?)
Die Menschen ein
und desselben Stammes, die sich über die Weiten Nordeuropas verstreuten,
kapselten sich gleichsam ein, weil sie nur mit nahen und entfernten Verwandten
verkehrten. Das musste seine Resultate zeitigen: Die Stämme (oder doch
Stammesverbände) entwickelten sich allmählich zu Völkern, aber
diese hatten dieselbe Wurzel: die aus dem Altai.
Zu nennen
wären hier die heutigen Udmurten, Mari, Mordwinen, Komi, Finnen, Wepsen,
Karelier, Reußen u. a. Jedes Volk formte im Laufe von Jahrhunderten seine
Sprache, seine Sitten und Traditionen, seine Festtage und seinen Alltag.
Kurzum, seine Kultur.
Das Werden eines
Volkes ist ein unvorhersagbarer und sehr langwieriger Prozess.
Selbstverständlich entwickelte sich bei weitem nicht jeder Stamm zu einem
Volk.
Wie der Alte Altai entdeckt wurde
Jene Uraler
Übersiedler, die die Verbindungen mit dem Altai nicht abbrachen und ihre
alte Heimat ab und zu besuchten, wurden später wahrscheinlich, wie die
Altaier selbst, ebenfalls zu den Turkvölkern gerechnet. Allerdings kann
diese Behauptung bestritten werden.
Als Arkaim,
Sintascht und andere Uraler Städte den Gipfel ihres Ruhms erreichten,
stand der Altai im Schatten. Er tat sich durch nichts hervor. Sein Ruhm wartete
noch bescheiden auf seine Reihe.
Die Altaier waren
damals dabei, die sie umgebende Welt zu entdecken und neue Territorien zu
besiedeln. Ihnen standen, ohne dass sie es wussten, außerordentlich
wichtige Ereignisse bevor, die sich dort noch nicht vollzogen, für die
jedoch ideale, von der Natur selbst geschaffene Bedingungen bestanden.
Die Landfahrer
mussten auf ihrem Weg steile Berge überwinden und jungfräuliche
Wälder durchqueren. Auf der Suche nach Weideplätzen für ihr Vieh
stiegen sie auf hohe Gebirgskämme und passierten reißende
Flüsse. Lang und beschwerlich war ihr Weg zu ihrem Ruhm, als sie den Altai
erschlossen.
Die schwer
zugänglichen, mit Wald bedeckten Berge nannte man Taiga.
Ein bekanntes
Wort, nicht wahr? Heutzutage kennt man es überall. Doch kaum jemand macht
sich Gedanken darüber, woher es zu uns gekommen und wann es entstanden
ist.
Wie reisten die
Bahnbrecher? Aufs Geratewohl? Aber nicht doch. Sie orientierten sich nicht
schlecht nach der Sonne und lernten es, die Himmelskarte nach Gestirnen zu
lesen. Ihren Weg prüften sie am Verlauf von Flüssen, sie wussten viel
von ihnen: wo ein Fluss begann, wie und wohin er floss. Die Flüsse waren
ihre einzigen Straßen, und so gaben sie ihnen Namen, um sie nicht zu
verwechseln. Das aber sind schon geografische Kenntnisse!
Im Altertum
hatten die Flüsse im Altai offenbar keine Namen. Wie die Wissenschaftler
meinen, hatten sie sämtlich nur den einen Namen: „Katun“, und das
bedeutete eben „Fluss“, den gewöhnlichen und einzigen Fluss, der einst
neben der Höhle oder der Siedlung floss. Von anderen Flüssen wussten
die Menschen nicht, ja sie ahnten nicht einmal, dass es auch noch andere Flüsse
gab.
Den
altertümlichen Namen bewahrt der wichtigste Strom des Altai, der Katun, bis heute. Einen anderen Strom,
der ebenfalls in den schneeweißen Berggipfeln entspringt, nannte man Bija. Auch dieser altertümliche
Name ist für Jahrhunderte auf den Landkarten der Welt fixiert. Die Bija
und der Katun ergießen sich lärmreich in die Bergtäler und
fließen zu einem einzigen breiten Strom zusammen, der das Nordpolarmeer
erreicht. Das ist der Ob.
Es sei
festgestellt, dass all diese Namen turksprachig sind.
Bija und Katun
bedeuten in der Übersetzung aus der Turksprache „Herr“ und „Herrin“, und
Ob bedeutet „Großmutter“. Aufgrund der Namen von Bergen, Flüssen und
Seen kann man, wie sich herausstellt, ebenfalls etwas von einem Volk und seiner
Vergangenheit erfahren. Die Wissenschaft von den Ortsnamen heißt Toponymik. Die Fachleute auf diesem
Gebiet sind an den Fingern einer Hand abzuzählen, weil die Toponymik von
einem Wissenschaftler sehr gründliche Kenntnisse in Geschichte, Geografie,
Linguistik und Ethnografie erfordert. Er muss einfach alles wissen.
Einer der
bedeutendsten Ortsnamenforscher ist Eduard Makarowitsch Mursajew. Sein
ausgezeichnetes Buch „Turksprachige Ortsnamen“ hat viele Geheimnisse von Altai
und Eurasien gelüftet. Wenn man es gelesen hat, sieht man die Landkarte
mit ganz anderen Augen.
So kann der
wohlbekannte Stromname Jenissej uns
nicht wenig Interessantes verraten. Dank der Toponymik klärt sich das in
ihm verborgene Rätsel der Laute auf.
Am Oberlauf
dieses Stromes gab es, wie sich herausstellt, sehr alte Ansiedlungen der
Altaier. Es hat sich eine Sage erhalten, nach der die ersten Angehörigen
des Turkvolkes – eben als Angehörige eines Volkes! – gerade hier
auftauchten. Sie nannten den Strom „Anassu“, was „Mutterfluss“ bedeutet.
Beim alten
Turkvolk war vieles mit Flüssen, genauer, mit Wasser verbunden. Ein
Neugeborener zum Beispiel wurde ins eiskalte Wasser eines Flusses getaucht.
Überlebte das Kind, so musste es gesund und stark groß werden. Wenn
nicht, dann trauerte ihm keiner nach. Daher rührte also die Gesundheit des
Volkes!
Und das Wort
„Turk-“ (stark) selbst – rührte es nicht ebenfalls daher? Erstaunlich
einfach.
Der einstige Sinn
und Name des Baikalsees, des größten und reinsten Sees der Welt, hat
sich verloren. In der altertümlichen Turksprache bedeutete der Name
„Heiliger See“, und die Menschen sagten andächtig: „Bai-kjol“. Ein jeder Mann hielt es für eine Ehre, sich mit
seinem erquickenden Wasser zu übergießen.
Der Strom, der im
Baikal-Gebirge entspringt, hat überhaupt alles verloren: sowohl seinen
Namen als auch seine Geschichte. Heute heißt er Lena. Früher einmal hieß er Ilin, d. h. „östlicher Strom“.
Er war der am
weitesten östlich verlaufende Strom des Alten Altai. In einer schweren
Zeit fanden andere Altaisippen (Ulus) Zuflucht an seinem Ufer. Seit
unvordenklichen Zeiten werden hier Turksprachen gesprochen. Die Weiten von
Sacha-Jakutien bilden auch heute eine richtige Schatzkammer von
Altertumsdenkmälern der turkischen Welt: Die politischen Katastrophen und
Kataklysmen machten einen Bogen um diese Region, verschonten sie.
Der Alte Altai
begann am Bai-Kjol und Sacha-Jakutien und reichte im Westen in die
unübersehbare eurasische Steppe hinein. Das war ein ganzes Land, das das
Turkvolk großwerden ließ, zu seiner Wiege und Heimat wurde.
Die Toponymik ist
eine überaus genaue Wissenschaft. Es gibt chinesische, arabische,
persische und griechische Namen, die sich ebenfalls ohne weiteres entziffern
lassen. Anders kann es gar nicht sein: In ihnen offenbaren sich die
altertümlichen Traditionen eines Volkes, denn jeder Ortsname, jede
geografische Bezeichnung hatte und hat stets einen sehr tiefen Sinn.
Wie man
feststellen kann, hatte jedes Volk einen richtigen Ritus der Namengebung. Wenn
die Angehörigen des Turkvolkes z. B. Berge benannten, sprachen sie deren
Namen nie laut aus, um kein Unglück heraufzubeschwören. Deshalb
konnte ein und derselbe Berg zwei oder sogar drei Namen haben. Diese Tradition
hatte gewiss ihren tieferen Sinn.
Es gab Sagen
über Berggeister, die Viehseuchen auslösten, die Weideplätze
austrocknen ließen und die Brunnen leer sogen. Um die Bergbeschützer
gütig zu stimmen, brachten die Menschen ihnen Opfer – und erfanden falsche
Namen für die Berge, die ausgesprochen werden durften.
Freilich kam es
mitunter zu einem Durcheinander von Namen. Trotzdem geschah das absichtlich,
damit die bösen Geister nicht verstanden, wovon die Rede sei, und sich
irrten.
So ist im Altai
der Ortsname Abai-Koby bekannt, er bedeutet „Hohlweg des großen Bruders“.
Dabei war die Rede keineswegs von einem Bruder. Eigentlich hätte es
„Hohlweg des Bären“ heißen sollen, denn der Bär war der
Beschützer dieses Ortes.
Der Name des
Berges Kysyy-Kyschtu-Osok-Bashy ist schon an sich etwas Besonderes. Niemand
entsinnt sich dessen, wie er aufkam und was er bedeutete, aber die
örtlichen Bewohner sprechen ihn fließend aus. Die Übersetzung
ist sehr verworren, etwas wie „Überwinterungsort im Oberteil der Schlucht
an der Mündung“. Was bedeutete der Name? Auf jeden Fall fanden die
bösen Geister diese so schlau versteckte Siedlung niemals.
Auf dem Gipfel
einiger Berge stellte das alte Turkvolk seine Heiligtümer – Obo – auf.
Dort wurden Opfer gebracht und Sünden erlassen. Deshalb enthalten die
Bergnamen im Alten Altai manchmal das Wort „Obo“: Obo-Osy, Obo-Tu. Von weit her
brachte ein Sünder einen Stein dorthin, so groß wie seine
Sünde. Er selbst wählte ihn am Bergfuß und trug ihn auf dem
Rücken hinauf. Aus solchen „Vergebungssteinen“ entstanden die Obo.
Das alte Turkvolk
vergottete die Berge und suchte bei ihnen die Vergebung ihrer Sünden. Denn
dort flogen, wie es im Volk hieß, die Seelen der verstorbenen Ahnen
zusammen, um Gericht zu halten; das geschah jedoch nicht auf jedem Berg,
sondern nur auf einem heiligen.
Wie wurde ein
Berg heilig? Und warum? Heute erinnert sich natürlich niemand daran. Ein
ungelöstes Rätsel des Turkvolkes? Alte Leute mögen etwas davon
wissen, aber sie verraten es nicht.
Am bekanntesten
war schon immer der Berg Utsch-Sumer,
der Berg mit drei Spitzen. Er war das Zentrum der Welt (Meru). Hier nahm alles
seinen Anfang, und hier endete alles. Das war der heiligste Ort im Alten Altai,
da durfte nicht einmal laut gesprochen, sondern lediglich geflüstert
werden. In der Nähe jagte man nicht, brach man keinen Grashalm ab. Das
galt als Sünde.
Später
entstanden auch andere heilige Bergspitzen: Borus, Khan-Tengri, Kailassa. Lange Zeit hindurch waren sie
turkische Heiligtümer. Bei Festen versammelten sich Tausende um sie. Diese
Heiligtümer sind nicht in Vergessenheit geraten, wenn auch heutzutage nur
Einzelne zu ihnen wandern.
Das alte Turkvolk
verehrte nicht nur Flüsse und Berge. Einmal im Jahr veranstaltete es das
Fest der Tanne. Auf dieses Fest freuten sich Erwachsene und Kinder am meisten.
Auch diese Tradition lebt fort.
Fest der Tanne
Im Altai wuchsen
schon immer sehr schöne, schlanke Tannen. Die Tanne galt beim Turkvolk
seit alters als heiliger Baum. Sie wurde ins Haus „hereingelassen“. Man feierte
Tannenfeste schon vor drei- oder viertausend Jahren, als die Menschen noch
heidnische Götzen anbeteten.
Ursprünglich
war das Fest Jer-Su gewidmet, der seinen Sitz im Zentrum der Erde hatte, wo die
Gottheiten und Geister ihrer Ruhe pflegten.
Zusammen mit
Jer-Su wohnte Ulgen, ein Alter mit einem dichten weißen Bart. Den
Menschen zeigte er sich stets in einem reichen roten Kaftan. Ulgen hatte Gewalt
über die guten Geister. Er saß auf einem goldenen Thron in einem
unterirdischen goldenen Palast mit einem unterirdischen goldenen Tor. Die Sonne
und der Mond waren ihm untergeordnet.
Das Tannenfest
fiel mitten in den Winter, auf den 25. Dezember. An diesem Tag besiegt der Tag
die Nacht, und die Sonne bleibt etwas länger am Himmel. Die Menschen
beteten zu Ulgen und dankten ihm für die wiedergegebene Sonne. Damit aber
das Gebet erhört wurde, schmückten sie seinen Lieblingsbaum, die
Tanne. Man trug sie nach Hause, band bunte Schleifen an die Zweige und legte
daneben Geschenke hin.
Der Sieg der
Sonne über das Dunkel wurde bis in die Nacht gefeiert. Die ganze Nacht
hindurch wiederholte man „Koratschun, Koratschun“. Darum hieß auch das
Fest selbst „Koratschun“, was in der alten Turksprache „Mag sie abnehmen“
bedeutete.
Mag die Nacht
abnehmen und der Tag zunehmen.
Um die Tanne
wurde ein Reigen – „Inderbai“ – geführt. Die Menschen bildeten einen
Kreis, der die Sonne symbolisierte. Auf diese Weise forderten sie die Sonne zur
Rückkehr auf. Alle glaubten, dass auch der sehnlichste Wunsch in
Erfüllung gehe, wenn man in jener Nacht intensiv genug daran dachte.
Und
tatsächlich, Ulgen enttäuschte die Menschen kein einziges Mal, wies
ihre Bitte kein einziges Mal ab: Nach dem Fest nahm die Nacht immer mehr ab,
während die Sonne immer länger am Himmel blieb.
Man nannte die
Tanne den „Ulgen-Baum“. Sie stellte eine Verbindung zwischen der Welt der
Menschen und der unterirdischen Welt der Gottheiten und Geister her. Gleich
einem Pfeil wies die Tanne dem Ulgen den Weg nach oben. Daher kam der Name
„Jol“, was in der Turksprache auch wirklich „Weg“, „Straße“ bedeutet.
Daher der Name
„Jolka“ (russ.: Tannenbaum)!
So viele
Jahrhunderte sind vergangen, das alte Fest hat sich aber nicht vergessen. Heute
ist es das allbekannte Neujahrsfest mit dem Tannenbaum. Ulgen freilich hat
einen neuen Namen bekommen: Väterchen Frost oder auch Heiliger Nikolaus
oder auch Santa Claus, aber seine Rolle beim Fest und seine Kleidung sind die
alten geblieben.
Nach wir vor wird
um den Tannenbaum ein Reigen getanzt. Und niemand denkt daran, dass der rote
Mantel, die Mütze, der Gürtel und die Filzstiefel von Väterchen
Frost aus der altturkischen Garderobe stammen. Diese Tracht war für sie
typisch. Die Archäologen haben das einwandfrei nachgewiesen.
Der Sage nach
veränderte Ulgen manchmal sein Aussehen. Dann hieß er Erlik. Im
Übrigen ist es möglich, dass Erlik ein Bruder von Ulgen war. Nach so
vielen Jahrhunderten lässt sich das kaum genau feststellen. Vielleicht ist
das auch nicht mehr so wichtig.
Viel wichtiger
ist etwas anderes. Für das alte Turkvolk verkörperten Ulgen und Erlik
Gut und Böse, Licht und Dunkel. Deshalb waren am 25. Dezember alle
Menschen, selbst die bösesten, gut und freigebig. Darunter auch Erlik, das
Symbol des Bösen. An diesem Tag brachte er einen Sack voller Geschenke
mit. Die Kinder gingen auf die Suche nach Erlik. Sie zogen singend umher, wobei
„Koljada“-Lieder gesungen wurden. Das Wort Koljada stammt aus der Turksprache
und wird als der Satz übersetzt: „Erbete dir das Wohlergehen.“
Zeichnungen aus dem Alten Altai
Das alte Turkvolk
besaß eine sehr gute Beobachtungsgabe, hatte keine Angst vor der Natur,
versteckte sich nicht vor ihr, vielmehr waren seine Angehörigen bestrebt, sie
zu verstehen. Allmählich formten sie ihre eigene Welt, ihre eigenen
Kenntnisse. Es entstand ihre eigene, höchst eigenständige Kultur.
Leider weiß man vorläufig nicht viel von ihr, sie wurde bisher wenig
erforscht.
Was den
Archäologen einen Einblick in die turkische Vergangenheit ermöglicht
hat, waren Zeichnungen. Ihre Zahl geht in die Tausende. Sie sind an den
Altai-Felsen aus sehr alten Zeiten geblieben. Die Zeichnungen sind vor allem
deshalb von enormem Interesse, weil sie Bilder aus der fernen Vergangenheit –
Szenen aus dem Leben – darstellen.
Nicht jeder
unserer Zeitgenossen wird diese Kunst der altertümlichen Künstler
ohne weiteres verstehen. Hier sind jede Linie, jeder Strich und jede Silhouette
voll tiefen Sinnes. So war der Hammel in der altturkischen Kultur das Symbol
des Wohlstandes, des Reichtums. Der Löwe bedeutete Macht, die
Schildkröte die Ewigkeit, die Ruhe, das Pferd den Krieg, die Maus eine
gute Ernte, während der Drache die Sonne, das Wohlbefinden und Glück
versinnbildlichte.
Hinter jeder
einzelnen Zeichnung steckte ein ganzes Poem, das viele Gefühle und
Gedanken hervorrief. Die Zeichnungen offenbaren das, was das Leben der Menschen
ausmachte, worüber sie sprachen, wovor sie sich fürchteten, wen sie
verehrten. Kurzum: das Leben selbst.
Eben das macht
die Felsbilder zur Kunst. Ebenso wie die Sprache machte sie ein
Volk zu einem Volk.
Die altturkische
Kunst entstand vor drei- oder viertausend Jahren. Das Leben selbst sagte den
Zeichnern Sujets vor, und ihnen blieb vorbehalten, sie festzuhalten. Genau
dadurch sind die Zeichnungen für die Wissenschaft interessant: Man braucht
nur aufmerksam darauf zu schauen, und die Felsen erwachen zum Leben, vermitteln
von selbst Informationen über die Vergangenheit.
Für ihre
Arbeit wählten die Zeichner gewöhnlich Felsen von gelber oder brauner
Farbe. Warum zogen sie solche Felsen vor? Das ist ungewiss. Auf jeden Fall
finden die Wissenschaftler die ältesten Zeichnungen gerade auf solchen
bunten Felsen. Die Darstellungen kommen meist an der einen, einer zweiten,
einer dritten Stelle eines Riesenfelsens gruppiert vor. Offenbar hatte auch das
einen Sinn und bildete seinerseits ein Rätsel.
Der
altertümliche Künstler „malte“ natürlich ohne Pinsel noch
Farben. Er ritzte mit einem Stichel Punkte in den Stein, einen nach dem
anderen. Aus diesen Punkten entstand eine Linie. Und die Linie machte
schließlich eine Darstellung aus, die der Zeichner der Zeit anvertraute.
Zu ihrem nicht
geringen Erstaunen bemerkten die Archäologen, dass die Tiere auf den
steinernen Bildern oft in Gruppen – zu fünf oder zu zehn Stück –
dargestellt sind. „Das entspricht ja der Zahl der Finger!“ riefen sie aus.
Konnte demnach das Turkvolk in tiefer Vergangenheit zählen? Nach allem zu
urteilen, konnte es das, und zwar sehr gut.
Im Alten Altai
bestand ein Tierkreiskalender. Alle zwölf Jahre begann er von neuem. Die
Sage erzählt davon wie folgt.
Ein Khan wollte
etwas von einem früheren Krieg erfahren. Niemand nannte jedoch sein Datum,
weil die Menschen die Zeit nicht messen konnten. Darauf befahl der Khan, alle
ihm bekannten Tiere zum Fluss zu treiben und ins Wasser zu stoßen. Nur
zwölf Tiere konnten über den Fluss schwimmen. Nach ihnen wurden dann
die Jahre des Kalenders genannt: ein Jahr der Kuh, ein Jahr des Hasen, ein Jahr
des Leoparden und so weiter. Der Khan bestätigte für das Turkvolk
zwölf Monate im Jahr und benannte die zwölf wichtigsten Gestirne.
Erstaunlich.
Dieser Zwölfjahreskalender hing von den Bewegungsphasen des Mondes und der
Sonne ab. Er wurde, wie die Wissenschaftler festgestellt haben, keineswegs aufs
Geratewohl zusammengestellt, sondern aufgrund präziser mathematischer und
astronomischer Berechnungen.
Haben wir die
zwölf Monate unseres Jahres vielleicht von den Altaiern übernommen?
Und zweimal zwölf Stunden am Tag, einmal für den Tag und einmal
für die Nacht?
Offenbar ist dem
so. Wie wäre sonst zu erklären, dass die Wissenschaftler in den
altturkischen Schriftzeichen z. B. auf folgende Daten stießen: „Die
Stunde des Pferdes am Tage der Kuh im fünften Monat des Jahres des
Leoparden“. Wohlgemerkt: Alle verstanden, wann das genannte Ereignis geschah.
Folglich benannte das Turkvolk selbst Stunden und Tage nach Tieren. Sein
Weltbild war einfach fantastisch!
Jedes Jahr hatte
seine Merkmale, und das wussten ebenfalls alle. In den Jahren des Hasen und des
Widders beispielweise war man auf Unbilden und Missernten gefasst, während
die Jahre des Leoparden, des Hundes und der Kuh im Gegenteil den Menschen gute
Ernten und den Wohlstand versprachen.
Aus den
altertümlichen Altai-Zeichnungen kann ein aufmerksamer Forscher viel
herauslesen. Sie erzählen z. B. darüber, dass die Altaier Hunde auf
die Jagd mitnahmen. Auch das entging dem Auge des Künstlers nicht. Auf
einer Zeichnung ist ein auf die Jagd gehender Mann dargestellt, auf seinem
Rücken ist ein Bogen, an der Seite ein Lederköcher mit Pfeilen zu
sehen, und hinter ihm läuft ein Hund.
Die frühe
turkische Kunst ist ungewöhnlich und verblüffend. Nicht in
künstlerischer Hinsicht ist sie besonders wertvoll, vielmehr
veranschaulicht sie das Leben der Menschen der fernen Vergangenheit. Das ist
viel wichtiger. Sie stellt dieses Leben so dar, wie der Zeichner es sah und wie
es tatsächlich war. Selbst die Umrisse von Tieren, Fischen und Vögeln
waren nicht etwa eine Laune des Zeichners. Sie waren Teil der geistigen Kultur
des Volkes.
In späteren
Zeichnungen zeigen sich Veränderungen. Sie traten vor ungefähr 3000
Jahren oder etwas später ein. Die Tiere rückten gleichsam in den
Hintergrund und machten Menschengestalten Platz.
Erstaunlich
schöne Gesichter schauen uns aus der Tiefe der Zeiten an. Man reißt
sich vom Schauen nur schwer ab, man kann sie nicht vergessen. Das sind ja
Bildnisse unserer Ur-Ur-Ur-Omas und -Opas. Hundert oder sogar zweihundert
Generationen trennen uns von ihnen.
Etwa zu gleicher
Zeit kamen im Altai auch die ersten figürlichen Menschendarstellungen auf.
Die alten Bildhauer zogen hauptsächlich Frauen vor. Sehr geschickt waren
die Künstler noch nicht, ihre Statuetten sind untersetzt, etwas
schwerfällig. Aber die Gesichter!
Welch
ausdrucksvolle Gesichter konnten sie doch schaffen! Mit etwas zu breiten
Backenknochen und einer einzigartigen Augenform. Augen, die dem jungen Mond
gleichen, waren ein Merkmal der Altaier. Bemerkenswert ist, dass die
Angehörigen der Turkvölker auch heute diese Augen haben.
Nach den
Zeichnungen zu urteilen, mochten die alten Altaier Gesang und Reigentänze.
Sie veranstalteten Maskenfeste und tanzten temperamentvoll, einander an den
Händen haltend. Auch diese ihre Vorliebe haben die Felsen trotz der vielen
seitdem vergangenen Jahrhunderte bewahrt.
Die Kunst eines
Volkes ist seine Seele. Sie erlischt auch dann nicht, wenn das Volk selbst
erlischt.
Wie eine hervorragende Entdeckung gemacht wurde
Selbstverständlich
unterschied sich das Turkvolk von den anderen Völkern nicht nur durch
seine Kunst, sondern auch durch das Streben, die Welt zu sehen. Seine
Angehörigen reisten gern, liebten es, die Natur zu erforschen, und suchten
nach einer Erklärung für deren rätselhafte Erscheinungen. Das
half ihnen in ihrem Leben im Gebirge mit seinem Klima, das nichts für
Schwächlinge ist: Da zeichnet sich der Winter durch klirrenden Frost und
der Sommer durch unerträgliche Hitze aus.
Nur geschickten
und viel wissenden Menschen konnte der harte Altai zur Heimstätte werden.
Vor ungefähr
2500 Jahren geschah im Altai ein Wunder. Im Grunde gab es gar kein Wunder, es
geschah eben jene wunderbare Umwandlung, die früher oder später einem
talentierten Volk zuteil werden musste.
Kurzum, jemand
sah, wie eine helle Linie den Himmel durchzog und ein Stern auf die Erde fiel.
Das war ein Meteorit, ein großer schwarzer Stein. Der außerirdische
Ankömmling blieb nicht unbemerkt, er interessierte einen Mann sehr, der
Temir hieß.
Auf diese (oder
vielleicht etwas andere) Weise erfuhr das alte Turkvolk vom Eisen, vom „Himmelsmetall“,
denn der auf die Erde gefallene Meteorit bestand aus Eisen.
Gewiss wussten
die Menschen von Meteoriten seit langer Zeit, tausende Male sahen sie solche
Steine, und das nicht nur im Altai. In Altägypten z. B. stellte man
ungewöhnlich harte Messer aus Meteoriten her, und sie waren teurer als
Gold. Nur die Herrscher und der Adel besaßen Eisenwaffen.
Im Altai nun war
es Temir, der etwas anfertigen lernte, woran niemand in der Welt auch nur
gedacht hatte. Er erfand den Schmelzofen, in dem er Eisen goss.
Das war eine der
größten Erfindungen der Menschheit. Sie ist höchstens mit der
Erfindung des Rades zu vergleichen, und die Folgen sind gar nicht
aufzuzählen. In der gesamten Weltgeschichte gibt es nur zwei oder drei
solche Erfindungen. Sie sind ganz hervorragend, genial und deshalb ewig. Man
kann sie wirklich nicht hoch genug einschätzen.
Dank Temir
erhielten die Menschen Eisen. Seitdem hieß es beim Turkvolk: „Gegen einen
Feind, der mit Knüppel bewaffnet ist, halte einen Eisenschild bereit.“ Das
Geheimnis des Eisengießens wurde zum wichtigsten Geheimnis des
Turkvolkes, zu seinem Schutzschild.
Das Wissen um den
Metallguss wurde mündlich überliefert, von Vater an Sohn vererbt. Nur
die zuverlässigsten Familien kannten das Geheimnis. An deren
Angehörige wurden Fremde nicht einmal herangelassen. Schmiede und
Metallwerker besaßen beim Turkvolk schon immer beinahe den höchsten
Stellenwert. Der Sohn eines Metallwerkers durfte z. B. nicht ein Mädchen
aus einem anderen, „nicht metallurgischen“ Stamm heiraten, denn so war er davor
sicher, das Geheimnis zufällig im Schlaf auszuplaudern.
Das Können
der Schmiede wurde den Taten von Heiligen gleichgesetzt. Und das hatte seine
Gründe. Eisen brachte dem Turkvolk einen unerhörten Wohlstand, machte
es zum stärksten und reichsten Volk der Welt. Überall herrschte noch
die Bronzezeit, und nur bei ihm gehörte Eisen zum Alltag.
„Wer hat Temir
diesen glücklichen Gedanken eingegeben?“ fragten die Menschen, wenn sie
die kostbaren Eisenstücke in den Händen hielten, die Temir aus einfachen
Steinen (eigentlich aus Eisenerz) gewann. Und einträchtig beschlossen
alle: „Der Gedanke stammt vom Guten Gott des Himmels.“
Der Gute Gott
wurde zum Beschützer der Altaier. Man nannte ihn Tengri, in der Turksprache bedeutete das „Gott des Himmels“ oder
„Ewiger Blauer Himmel“. Seitdem beschützte Tengri die turkischen
Stämme und half ihnen, sich zu einem Volk zu entwickeln.
Zum Alten Altai
entsandte er seinen Lieblingssohn Gesser, und Gesser brachte den Menschen ein
Leben in Rechtschaffenheit bei. Gesser war der Erste Prophet auf der Erde, der
Abgesandte des Gottes des Himmels. Gesser erzählte den Menschen von
Tengri.
Bei den
Völkern Zentralasiens haben sich viele Sagen von Gesser und seinen
ruhmreichen Taten erhalten. Freilich veränderte sich der Name Gesser im
Laufe der Jahrhunderte, was in der Geschichte der Völker keine Seltenheit
ist. Nunmehr nennen ihn die Angehörigen der Turkvölker häufiger
Keder oder sogar Chysr. Das Gedächtnis des Volkes hat ihn neben der
Gestalt Tengris, des Gottes des Himmels, bewahrt.
Er ist weise und
wacht über die Quelle des Lebens auf Erden; ein unsterblicher Held, den
sich die einen Menschen als einen bärtigen Greis mit einem Wanderstab und
die anderen als einen starken jungen Mann in den Blüte seiner Jahre
vorstellen.
Interessant ist,
dass die Gestalt von Chysr (beziehungsweise Keder oder sogar Kederles) heute
bei vielen Völkern der Welt vorkommt. Doch nicht bei allen, sondern nur
bei solchen, die eng mit der alten turkischen Kultur und Tengri verbunden
waren. Einem aufgeklärten Menschen sagt das viel.
Die Gesser-Sagen
künden von der glücklichen Zeit, da im Altaigebirge Glück
herrschte und die Erde von den urzeitlichen Dämonen und Ungeheuern
gesäubert war. Damals fanden die Altaier reiche Eisenerzvorkommen und
gingen an den Bau von Städten und Siedlungen. Sie erkannten den Gott des
Himmels. Das Leben veränderte sich von Grund auf.
Professor Sergej
Iwanowitsch Rudenko, ein hervorragender Archäologe, erforschte diese
Periode in der Geschichte des Alten Altai. Allerdings sprach er in seinen
Büchern nie von einem Turkvolk. Er nannte die Altaier Skythen.
Dafür hatte
er seine Gründe.
Die Skythen – ein rätselhaftes Volk?
Zu der Zeit, da
Sergej Rudenko seine Grabungen vornahm, wurde die Wahrheit über die
turkische Kultur weder gesagt noch geschrieben. Das war verboten. Im
zaristischen Russland und später in der Sowjetunion wurden Wissenschaftler
wegen einer bloßen Andeutung der Wahrheit darüber eingekerkert und
sogar erschossen. Das Thema war tabu.
Über die
Skythen aber durfte man sprechen. Ihre Ansiedlungen und Bestattungsplätze
durften erforscht werden. Und die Wissenschaftler taten das. Doch bei weitem
nicht alles wurde gesagt. So verschwieg man, welche Sprache die Skythen
untereinander sprachen, woher sie stammten und, vor allem, wer sie eigentlich
waren.
Das war ein
sorgsam gehütetes Geheimnis, genauer: eine stumme Einigung der
Wissenschaftler untereinander, ans tabuierte Thema nicht zu rühren. Waren
die Skythen demnach vom Himmel gefallen? Sprachen sie eine
„außerirdische“ Sprache? Sie tauchten überraschend in den Steppen
auf, die sich auf dem heutigen Territorium von Kasachstan, Usbekistan,
Russland, der Ukraine, von Bulgarien und Ungarn befinden. Und später
verschwanden sie.
Sie kamen
geheimnisvoll – aus dem Nichts – und lösten sich ebenso geheimnisvoll – im
Nichts – auf. Aber ist so etwas denn möglich?
Der erste
Europäer, der etwas über die Skythen mitteilte, war der
altgriechische Schriftsteller Herodot, ein Kenner der alten Welt. In seinem
Geschichtswerk über die Perserkriege erzählte er über das Leben
des Steppenvolkes, seine Feste und seinen Glauben, seine Traditionen und seine
Kriegskunst. Er berichtete selbst über das Aussehen und die Kleidung
seiner Angehörigen.
Die Skythen
seien, behauptete Herodot, aus dem Osten, aus der Ferne in die
europäischen Steppen gekommen. Woher konkret? Darüber schrieb er
nicht, weil seine geografischen Kenntnisse noch sehr lückenhaft waren.
Dabei hätten die Skythen von keinem anderem Ort kommen können als aus
dem Altai, von dem die Griechen nicht einmal gehört hatten.
Viel später,
als die Wissenschaftler vom Altai und vom Turkvolk erfuhren, kam die Meinung
auf, die Skythen seien ein aus dem Altai abgewanderter Teil des Turkvolkes, der
aus irgendwelchen Gründen die Heimat verlassen habe.
Diese Annahmen
waren durchaus begründet, weil die Skythen und das Turkvolk eine absolut
identische Kultur haben. Unterschiede zwischen ihnen zu suchen, wäre
dasselbe, wie wenn man nach Unterschieden zwischen Zwillingsbrüdern suchen
wollte. Reiner Zeitverlust.
In Russland wurde
der Gedanke über die Identität von Skythen und Turkvölkern vor
300 Jahren vom russischen Historiker Andrej Lyslow geäußert. Doch
seine Wahrheit kam ungelegen, und der Wissenschaftler wurde bestraft. Diese
Wahrheit missfiel dem Zaren Peter I., einem Erzfeind des Turkvolkes, der nach
den Asow-Feldzügen die Große Steppe okkupierte und aus einem freien
turkischen Land eine Kolonie Russlands machte. Ihm ging es also darum, zu
verbergen, dass das Turkvolk ein angestammtes Volk Russlands und der Ukraine
war, das dort seit unvordenklichen Zeiten lebte. Und so sagte der Zar, es gebe
kein Turkvolk, dieses habe auch nie eine Heimat oder eine Kultur gehabt. Auf
diese Weise tauchten in der russischen Geschichte anstatt des Turkvolkes „wilde
Nomaden“ und „heidnische Tataren“ auf.
Bald trafen in
Russland Wissenschaftler aus dem Ausland ein. Ihnen wurde sehr viel Geld
gezahlt, damit sie mündlich und schriftlich behaupteten, die Skythen seien
Slawen, das Turkvolk dagegen überall als eine wilde Nomadenhorde verschrien.
Seit jener Zeit
hörte man auf, die Wahrheit vom Turkvolk und von den Skythen zu sagen.
Eine unverschämte Lüge folgte auf die andere, und die Lügen
wurden beharrlich verbreitet. Doch sie wirkten so absurd, dass sie nicht
geglaubt wurden. Was hatten die Slawen damit zu tun? Die Slawen hatten nie in
der Steppe, vielmehr in Wäldern gelebt.
Man ging noch
weiter und erfand eine neue Lüge: Die Skythen seien aus Persien
eingefallen und hätten Persisch gesprochen. Leider hatte sich dieses
Märchen durchgesetzt und lebt bis heute in der russischen
Geschichtswissenschaft fort.
Selbst
schriftliche Denkmäler aus skythischen Hügelgräbern, die mit
turkischen Runen beschrieben sind, überzeugen die Ignoranten nicht. Nichts
ist ihnen überzeugend genug. Die Redewendung „Jeder sieht nur, was er
sehen will“ stimmt wahrscheinlich doch.
Aber Wahrheit
bleibt Wahrheit, und wenn sie auch verboten ist. Ehrliche Wissenschaftler
suchten weiter nach ihr. Zu ihnen gehörte glücklicherweise Professor
Sergej Rudenko.
Er hatte nicht
gegen das Verbot verstoßen, das hätte ihm viel Unglück
gebracht. Aber der Wissenschaftler berichtete in seinen Büchern ehrlich
darüber, was er vom Turkvolk und seiner Kultur erfuhr. Seine Arbeit ist
deshalb so wertvoll, weil man darin gleichsam zwischen den Zeilen lesen kann.
(Was tun, in gefährlichen Zeiten mussten Wissenschaftler so manches Buch
auf ebendiese Weise schreiben!)
Rudenko stellte
fest, dass die Skythen im Altai gelebt hatten und von dort nach Europa
übergesiedelt waren. Sie gehörten zu den Turkvölkern, denn sie
sprachen und schrieben eine Turksprache. Allerdings nannten sie sich, wie
Herodot behauptet, Skolten.
Die Iraner und
Inder kannten sie unter dem Namen „Saken“. Dieser Name der Skythen stammte vom
altturkischen Wort „sakla“, was „bewahren“ bedeutete. Übrigens ein sehr
treffendes Wort. Ja, die Skythen zogen vom Altai weg. Aber hierbei bewahrten
sie sich stolz den Glauben ihrer Ahnen. Gesagt sei, dass das eine von der
Wissenschaft noch gar nicht entdeckte Geschichte ist. Von ihr weiß man so
gut wie nichts. Nur in Volkssagen und vielleicht noch in buddhistischen
Chroniken haben sich Fragmente jener Überlieferungen erhalten.
Offenbar wurde im
Altai damals, vor zweieinhalbtausend Jahren, viel Blut vergossen. Heftige
Streitigkeiten arteten zu Kriegen aus. Die einen Stämme verteidigten mit
der Waffe in der Hand die Oberherrschaft der alten Götter (Jer-Su, Ulgen,
Erlik). Andere bestanden auf der Oberherrschaft des neuen Gottes des Himmels,
des Allmächtigen Tengri.
Erstmalig in der
Weltgeschichte prallten das Heidentum und die neue Religion auf dem
Schlachtfeld aufeinander. Das war ein unverkennbarer Glaubenskrieg.
Die Anhänger
des „alten Glaubens“ wichen zurück, man nannte sie Skythen (oder Skolten
beziehungsweise Saken). Natürlich waren sie kein neues Volk, sie konnten
einfach kein neues Volk sein, das überraschend aufkreuzt und ebenso
überraschend verschwindet, gleich einem namenlosen Kometen.
Ein Volk entsteht
nie aus dem Nichts und kann sich nie in Nichts auflösen.
Von Tengri gegeben
Warum brach jener
religiöse Konflikt gerade im Altai aus? Die Antwort ist in der turkischen
Seele zu suchen. Diese Seele ist eine unergründbare Welt von Träumen
und geheimnisvollen Gestalten und Bildern, und diese brachten die
Reichtümer der geistigen Kultur hervor.
Das alte Turkvolk
meinte, dass das Wohlergehen eines Volkes in der Macht der Geister, der
Beschützer der Stämme, liege. Und die Menschen glaubten an sie und
nannten den betreffenden Geist ihren Gebieter. Jemand glaubte an die Macht des
Geistes eines Schwanes, andere suchten Schutz beim Geist des Wolfes, des
Bären, des Fisches oder des Hirsches.
Alle
Angehörigen des Turkvolkes zusammen verehrten die Schlange oder den Drachen.
(Schlange hieß in der alten Turksprache „Maga“ oder „Jylan“, der Drache
hieß „Lu“ und die Eidechse „Got“; daher rührt wahrscheinlich der
Name, den dem Turkvolk in Europa gegeben wurde: die „Goten“.)
Der
Beschützer eines Stammes wurde auf Fahnen dargestellt. Gerade auf der
Fahne lebte der Schutzgeist, weshalb sie etwas Besonderes war. In der Sprache
der Altaltaier klangen die Wörter „Fahne“ und „Geist“ völlig gleich
und bedeuteten dasselbe.
Die
altertümlichen turkischen Fahnen wurden einst aus dem Fell von erlegten
Tieren hergestellt. Später verwendete man Gewebe, darunter Seide, dazu.
Wenn man eine Fahne fallen ließ, galt das als ein großes
Unglück, und wer die Fahne senkte, brachte sich in Schande.
Die Schlange
wurde nicht zufällig von allen verehrt. Sie galt als die Urmutter der
Menschen, sie gab ihnen Wissen und Weisheit. Diese Sage lebt seit sehr alten
Zeiten fort. In Zentralasien wird die Schlange (der Drachen) bis heute
besonders verehrt, ihr werden Feste gewidmet, auf ihre Darstellungen trifft man
überall.
Bemerkenswert
ist, dass die Angehörigen des alten Turkvolkes in den Sagen anderer Völker
oft „Nags“, d. h. „Schlangenmenschen“, genannt wurden. Wie es hieß, war
die Schlange die Herrin über die unterirdische Welt. Deshalb lebten die
ihr untergeordneten Gottheiten (Jer-Su, Erlik und andere) unter der Erde. Lange
Zeit hindurch glaubten die Menschen an diese Herrscher der unterirdischen Welt.
Der neue Gott,
Tengri, gehörte einer ganz anderen Welt an, nämlich der im Himmel.
Mit ihm kam ein anderer Glauben zu
den Menschen. Und auch ein anderes Leben! Mit Eisenwerkzeugen in den
Händen. „Der Gott des Himmels ist der Herr der Welt“, hieß es beim
Turkvolk. Oder doch bei jenem Teil davon, der erkannt hatte, dass die alten
Götter ihre Kraft einbüßten.
Nicht alle waren
damit einverstanden. Die Gegner gaben nach und zogen aus dem Altai, ohne den
alten Glauben an die Herrscher der unterirdischen Welt aufgegeben zu haben. Auf
diese Weise begann im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung die Geschichte
der Skythen (Saken, Skolten).
Sie zogen weg, im
Altai aber setzten gewaltige Veränderungen ein, die beim Vorhandensein von
Arbeitsinstrumenten aus Eisen auch eintreten mussten. Mit diesen hat sich
Professor Rudenko beschäftigt. Bei seinen Ausgrabungen in den Kurganen von
Pasyryk legte der Wissenschaftler wahre Schätze frei. Wir meinen
natürlich nicht Gold oder Silber. Seine Funde haben einen viel
höheren Wert. Sie erlauben es, viel vom Leben des Turkvolkes, als es schon
Eisen herstellte, zu erfahren. Professor Rudenko hat Beweise unter der Erde
hervorgeholt! Beweise, die von den Händen der Altaier angefertigt worden
waren. Das ist der große Vorteil seines Buches.
Im Unterschied zu
einigen besoldeten Wissenschaftlern, die auf Geheiß des Zaren handelten,
trat Professor Rudenko nicht mit unbegründeten Behauptungen hervor,
sondern lieferte der Wissenschaft archäologische Beweise. Am wertvollsten
unter seinen Funden war zweifellos das Geschirr, ohne welches man ein Pferd
bekanntlich nicht zäumen kann. In der Erde des Hügelgrabs haben sich
nicht nur Lederriemen, sondern auch ein Eisenmundstück erhalten.
Außerdem Kreuze aus Eisen, die als Schmuck dienten.
Heutzutage ist
ein Pferdezaum nichts Außergewöhnliches. Doch kaum jemand
weiß, dass er im Altai aufkam und dass mit ihm eine neue Kultur entstand,
die wir turkisch nennen. Er sieht so einfach aus, dieser Zaum, dabei machte er
das Turkvolk zu dem unbesiegbaren Volk der Reiter! Niemand in der Welt hatte es
verstanden, so elegant das Pferd zu zäumen und hoch zu Roß die Welt
zu erobern.
Das Pferd schob
die Grenzen des Alten Altai auseinander, machte ferne Gegenden zugänglich,
wurde zu einem neuen Beförderungsmittel und zur Zugkraft. Beritten strebte
das Turkvolk vorwärts, zum Progress. Auch sonst kamen in der Lebensweise
der Altaier viele Neuheiten hinzu.
In den
Altai-Kurganen fanden die Archäologen Schwerter, Säbel und Dolche,
Steigbügel und Kettenhemden, Helme und Panzer. Überzeugend? Doch ja.
Kein anderes Volk der Welt hatte so viele ausgezeichnete Waffen. Nur das
Turkvolk. Eben deshalb zerschlug sein Heer ohne weiteres die Riesenarmee des
chinesischen Kaisers. Deshalb kam das Wort „Turk-“ in den chinesischen
Chroniken auf. Mehr noch, schon im 4. Jahrhundert v. u. Z. übernahmen die
Chinesen vom Turkvolk seine Kleidung, u. a. die Hose. Später
übernahmen sie auch das Reiten.
Die Menschen im
Altai wussten, dass es Tengri war, der ihnen die ungewöhnliche Stärke
und ihre Fertigkeiten gab: Er lehrte sie den Boden pflügen, was ebenfalls
niemand auf der Welt vermochte. Auch gusseiserne Pflugscharen (Urform des
Pfluges) wurden von Archäologen im Alten Altai gefunden.
Die Altaier verwendeten
eiserne Sicheln zur Ernte und reinigten das Getreide mit einem eisernen
Dreschflegel. Sie bauten Roggen und Hirse an und verwahrten das Korn in
Tonkrügen. Zur Getreideverwahrung dienten ihnen außerdem Speicher
und Korndarren, Bastsäcke und Truhen. Brot wurde in speziellen Öfen
in Form runder Laibe gebacken. Das taten Bäcker, Karawaitschi genannt
(vgl. das russ. Karawai, rundes
Brot). Ihre Brote mussten rund sein, damit sie der Sonne glichen. Dieses Brot
aus Hefeteig und mit einer appetitlichen Kruste schmeckte sehr gut.
Seitdem wussten
die Menschen im Altai nicht mehr, was hungern hieß.
Veränderungen
traten auch in der Form der turkischen Unterkünfte ein. An die Stelle der
Kurens traten aus Balken gebaute Blockhäuser (das russ. Wort Isba, Dorfhaus, kommt vom turksprachigen
„Issi bina“, „warmer Ort“), in denen es warm und gemütlich war. Zum Heizen
diente ein Ziegelofen – jener Ofen, der heute aus unerfindlichen Gründen
„russisch“ genannt wird. Es hat sich vergessen, dass Ziegel („Kirpetsch“, d. h.
„Lehm aus dem Ofen“; vgl. das russ. Kirpitsch,
Ziegel) das wichtigste Baumaterial des Turkvolkes waren.
Kein anderes Volk
der Welt verwendete damals Holzblöcke und Ziegel zum Bauen, weil niemand
sonst die entsprechenden Fertigkeiten hatte.
Die
Angehörigen des alten Turkvolkes bewahrten sich ihr Äußeres,
ihre Gesichter sind selbst nach Jahrhunderten unverwechselbar. Dank ihrer
Nationaltracht z. B. sahen sie anders aus als andere Völker. Zu ihrer
Nahrung gehörten Fleisch- und Sauermilchgerichte, und weiches Schwarzbrot
machte das Essen besonders schmackhaft. Andere Völker buken selbst Brot
anders.
Trachten und
Nationalküche sind für die Ethnografie überaus wichtige Dinge.
Das ist logisch. Ein Volk der Reiter kleidet sich und isst ganz anders als z.
B. ein Volk der Fischer.
Im Altai waren
aber Alt und Jung Reiter. Zu Fuss laufen galt als schändlich. Ein Kind
wurde auf ein Pferd gehoben, bevor es noch laufen lernte. Ein Angehöriger
des Turkvolkes wuchs neben seinem Pferd auf. Sein Pferd begleitete ihn sein
Leben lang. Selbst begraben wurde er mit seinem Pferd.
Deshalb
erschienen die ersten Hosen der Welt (Schalware) und Stiefel mit hohem Absatz
gerade bei diesem Volk der Reiter. Ebenso wie Sattel mit Steigbügeln,
Eisensäbel, Dolche und Spieße aus Eisen, ganz besonders starke
Bögen, denn die Reiter waren Krieger. Andere Völker benötigten
diese Gegenstände einfach nicht. Sie hätten sie auch nicht zu
handhaben gewusst.
Eiserne Sicheln
und Äxte, gusseiserne Pflüge, warme Häuser, anmutige
Paläste und Turmhäuser, Radfahrzeuge, Britschkas und vieles andere
wurden der Menschheit vom fleißigen Turkvolk geschenkt.
Das wären
also konkrete – und unbestreitbare – Errungenschaften der altturkischen Kultur.
Im Altertum hieß es auf dem Altai: „Alles – Gut und Böse, Armut und
Reichtum – wird nur von Tengri gegeben.“
So ist es.
Der Gott des Himmels
Wer war er, der
Große Tengri, das Herzstück der turkischen Kultur?
Tengri war ein
unsichtbarer riesengroßer Geist, der im Himmel wohnte. So groß wie
der Himmel selbst, wie die ganze Welt. Deshalb nannte ihn das alte Turkvolk
andächtig „Ewiger Blauer Himmel“ oder „Tengri Khan“. Der Titel „Khan“ wies
auf seine Oberherrschaft im All.
Er war der Eine
Gott, der Erzeuger der Welt und allen Seienden auf Erden. Der Herrscher. Alte
Sagen künden davon, und sie sind nicht in Vergessenheit geraten.
Um die ganze
Weisheit und Tiefe des Glaubens an Tengri zu verstehen, mussten sich die
Menschen über die einfache Wahrheit klarwerden: „Es gibt nur Einen Gott.
Er sieht alles.“ Ihm bleibt nichts verborgen. Er ist der Herr und Richter.
Mit dieser Regel,
an das Gottesurteil denken zu sollen, lebte damals das Turkvolk. Dem war jedoch
keine Angst beigemischt, denn die Menschen waren überzeugt: Es gebe in der
Welt die höhere Gerechtigkeit, nämlich das Gottesgericht. Ihm
könne niemand entgehen, weder ein Herrscher noch ein Sklave.
Gott war Schutz
und Strafe in einer Person. Darauf gründete sich der Glaube des Turkvolkes
an den Einen Gott.
Die Religion war
der Höhepunkt der turkischen geistlichen Kultur, die Menschen hatten das
Heidentum aufgegeben. Sie riefen Tengri mit vielen Namen an: Gott („Bogdo“ oder
„Boshe“, vgl. das russ. Bog, Gott),
Chodai (oder Kodai), Allah (oder Olloh), Gospodi (oder Gosbodi, vgl. das russ. Gospod, der Herr).
Die Altaiberge
hörten solche Anrufungen bereits vor zweieinhalbtausend Jahren. Es gab
natürlich auch andere Namen für Tengri.
Aber das Wort
„Bog“ wurde öfter als alle übrigen ausgesprochen, es bedeutete
„Frieden, Ruhe und Vollkommenheit erlangen“. Mit Bog, also mit Gott, zogen die
turkischen Truppen nun in die Schlacht. Mit Gott gingen sie an jedes schwierige
Werk.
Der Name „Chodai“
(buchstäblich: „Sei glücklich“) hatte einen anderen Sinn, es betonte,
dass Tengri der Allmächtige dieser Welt war: der Schöpfer, der diese
Welt erschaffen hatte. Folglich der Allmächtige, der Glück beschert.
„Allah“ (Ala)
wurde vom alten Turkvolk seltener gebraucht: nur dann, wenn man den
Großen Tengri Khan um etwas bat, besonders um etwas Heißersehntes.
Dieses Wort stammte vom turksprachigen Wort „al“ (Hand). Anders gesagt
bedeutete „Allah“ einst „der Gebende und Nehmende“. Beim Aussprechen dieses
Wortes waren Gebete zu sprechen und die Hände dem Ewigen hinzuhalten.
Das Wort
„Gospodi“ erst war ganz selten, nur Priester durften es aussprechen. Es
bedeutet „Erkenntnis durch Schauen“ oder „der die Erkenntnis Gebende“. Das war
die höchste, die heimliche Anrufung Tengris. Das Wort hatte einen sehr
tiefen philosophischen Sinn. Ein geistig reiner Gerechter bat darum, ihm den
rechten Weg zu der Erkenntnis dessen zu weisen, was sich hinter einer
sichtbaren Erscheinung verberge.
Mit den Jahren
wurden die Regeln, nach denen die Menschen beteten, ihre Feste feierten und das
Fasten hielten, genauer formuliert. Aus den Regeln entstand ein Ritual. Geistliche wachten über die Einhaltung des Rituals.
Die turkischen
Geistlichen unterschieden sich von den übrigen Menschen durch ihre
Kleidung und ihre gerechte Denkweise. Sie trugen lange Chalate (Kaftane) und
spitz zulaufende Kapuzen (Baschlyks). Die höchsten Geistlichen kleideten
sich weiß, die übrigen schwarz.
Selbstverständlich
„zeichneten“ die alten Künstler auch Geistliche an den Altaifelsen.
Deshalb wissen wir heute, wie sie aussahen, diese geheimnisvollen „weißen
Wanderer“ (so hießen sie im Volk). Sie predigten den Glauben.
Als Symbol von
Tengri wählte das Turkvolk ein gerades gleichseitiges Kreuz, „Adshi“.
Übrigens war das Kreuz auch früher ein Zeichen der turkischen Kultur
gewesen. Außerdem gab es noch ein „schräges“ Kreuz als Symbol der
Unterwelt und der alten, unterirdischen Gottheiten.
Ursprünglich
waren die Adshis sehr einfach in der Ausführung, dann entwickelten sie
sich zu echten Kunstwerken. Sie wurden von Juwelieren hergestellt, die die
Oberfläche des Kreuzes vergoldeten und mit Edelsteinen besetzten, damit es
strahlte und die Seelen ergötzte.
Schräge
Kreuze entstanden im Altai vor 3000 oder 4000 Jahren. Doch genau genommen waren
das keine richtigen Kreuze. Als solche bezeichneten sie die Europäer, als
sie vom Tengri-Glauben erfuhren.
Im Kreuz
überschneiden sich zwei Linien. Das Tengri-Zeichen aber wies keine
Schnittlinien auf, sein Sinn lag in anderem: Darauf wurde ein Kreis, die Sonne,
abgebildet, von der vier Strahlen ausgehen. Das war die Bedeutung des
Tengri-Zeichens.
Sonnenstrahlen!
Sie versinnbildlichten die Strahlen des göttlichen Segens, der von einem
Zentrum aus herunterkam, und sind das Zeichen der Himmlischen Natur, das die
religiöse Kultur des Turkvolkes für immer geprägt hat. Anders
konnte es bei einem Volk, das an die Kraft des Ewigen Blauen Himmels glaubte,
gar nicht sein.
Bisweilen wurde
das Tengri-Zeichen (Kreuz) durch einen Halbmond ergänzt. Das gewann schon
einen ganz anderen Sinn, gemahnte an Zeit und Ewigkeit. Denn das alte Turkvolk
fasste die Zeit als Einheit von Mond und Sonne auf (daher ihr Zwölfjahreskalender).
Das
Tengri-Zeichen wurde auf Kampfbanner gestickt, auch an einer Kette an der Brust
getragen. Außerdem ließ man es sich an der Stirn tätowieren.
Künstler flochten es in bunte Muster und Ornamente ein. Das ist
natürlich, ist eine nationale Tradition.
Das Turkvolk in Indien
Die Kunde vom
Allmächtigen Gott des Himmels und seinem reichen Land verbreitete sich
weit über die Grenzen des Altai. Dazu trugen Angehörige des
Turkvolkes selbst bei, nämlich durch ihre Taten und Leistungen. Ihre
„weißen Wanderer“ reisten in verschiedene Länder und predigten den
Tengri-Glauben.
China lehnte die
turkischen Prediger ab – und musste das büßen. Reiter fielen ins
Land ein und unterwarfen es gewaltsam. Nicht einmal die Große Chinesische
Mauer half den Chinesen. Aber die Nachricht über Tengri kam so auch in
dieses Land, das sich das Reich der Mitte nannte. Es ist nicht ausgeschlossen,
dass die Chinesen ihren eigenen Kult des Himmels hatten und ihn zu verteidigen
suchten.
In Indien
gestaltete sich alles anders. Dort zeigte sich das Interesse für Tengri
sofort. Und so begann vor zweieinhalbtausend Jahren (oder sogar etwas
früher) ein indisches Kapitel in der turkischen Geschichte.
Der Altai und
Indien lebten nun das gleiche geistliche Leben. Vieles verband sie miteinander,
in erster Linie der Glaube. (Allerdings fassten die Inder ihren Buddha anders
auf als das Turkvolk seinen Tengri, das hinderte sie jedoch nicht, nach den
ewigen Wahrheiten zu suchen und geistliche Dialoge zu führen.) Über
jene fernen Zeiten berichten z.B. indische Sagen von den Nag.
Als Nag
bezeichneten die Inder die weisen Halbgötter, deren Urahnin die Schlange
war. Ihr Land lag nördlich von Indien, in großer Entfernung davon,
dort, wo die Erde unermessliche Schätze und das eiserne Kreuz barg. Die
Inder nannten dieses ferne Land Schambhu („Gunst gewährend“) oder auch
Schambhkala („Leuchtende Festung“ in der Turksprache).
Der Sage nach
hatten die Nag einen Schlangenkörper, aber ein Menschengesicht und konnten
nach Belieben die Schlangen- oder die Menschengestalt annehmen. Das waren sehr
zarte, musikalische Wesen, die eine Schwäche für Poesie hatten. Ihre
Frauen waren für ihre seltene Schönheit berühmt.
In Indien wird
das altertümliche Buch „Mahabharata“ aufbewahrt, das darüber
erzählt, wie die Religion dort eingezogen war und wie sich die
religiöse Kultur herausgebildet hatte. Dieses Buch ist eine Art Chronik
Altindiens. Es berichtet auch über die Nag und ihr rätselhaftes Land
im Norden. In Wirklichkeit ist das beileibe kein Märchen. Die Rede ist von
durchaus realen Ereignissen. Die Geschichte in Form von Legenden und Sagen zu
erzählen, gehört zu den alten indischen Traditionen, die in
unvordenklichen Zeiten wurzeln. (Indische Wissenschaftler nehmen ihre Legenden
sehr ernst und nennen sie absolut zuverlässige Quellen.)
Die Inder geben
z. B. offen zu, dass sie ihren heiligen Text „Pradschnyaparamitha“ den Nag, d.
h. dem Turkvolk, entlehnten. Nur die weisesten Aufklärer durften ihn
lesen, nur ihnen allein war die im Text enthaltene Weisheit zugänglich.
Natürlich
erwiesen die Inder dadurch der turkischen Kultur eine große Ehre. Sie
haben ihre Heiligtümer bewahrt: das, was das Turkvolk selbst vergessen
hat.
Das Land
Schambhkala lag am Fuß des Berges Sambyl-Tas-Hyl, im Becken des Flusses
Khan Tengri. In dichten, eiskalten Nebel gehüllt, liegen dort Städte,
Klöster und blühende Gärten. Legenden über dieses
geheimnisvolle Land sind jahrhundertealt. Mönchen, die dort leben sollten,
wurde das allerheimlichste Wissen nachgesagt.
Viele Menschen
suchten nach diesem Land. Vergebens. Niemand konnte sich ihm auch nur
nähern. Wie es heißt, liege das Land in einem unzugänglichen
Tal von Tibet, dort, wo sich das irdische Leben und die höchste Vernunft
des Himmels berührten.
Diese Meinung
wurde von großen Orientalisten geäußert. Mit ihnen
einverstanden waren z. B. der berühmte Reisende und Ethnograf Nikolaj
Michajlowitsch Prshewalski, der Philosoph Nikolaj Konstantinowitsch
Röhrich, die Aufklärerin Jelena Petrowna Blawatskaja. Leider
fällt es schwer, ihnen zuzustimmen. Sie irrten sich offensichtlich und
fanden deshalb nichts. Zu unserem größten Leidwesen.
Sie suchten am
falschen Ort!
Im 19.
Jahrhundert wussten die Wissenschaftler im Grunde nichts vom Altai und seiner
altertümlichen Kultur, von vielem hatten sie nicht einmal eine Ahnung. Die
russischen Behörden verbargen und entstellten die Geschichte des
Turkvolkes, bis die gesamte russische Wissenschaft in eine Sackgasse geriet, so
dass selbst anerkannte Autoritäten irrten.
Und so wusste
niemand, dass der Glaube an den Gott des Himmels aus dem Altai nach Tibet und
Indien gekommen war. Eine andere Ausgangsstelle gab es einfach nicht. Dort
schlug er tiefe Wurzeln. Bis heute hat sich die Religionsströmung
Lamaismus erhalten, deren Grundlagen beim Turkvolk zu suchen sind. Die tibetischen,
mongolischen und burjatischen Lamaisten wissen das noch heute.
Der Name Tengri
ist auch in Indien natürlich nicht vergessen worden. Nicht von
ungefähr wird Buddha dort mit blauen – „turkischen“ – Augen dargestellt.
Ist das nicht ein Nachhall einer halbvergessenen Geschichte? Beispielsweise der
Geschichte aus der Zeit von vor 2500 Jahren, als unbekannte Reiter aus dem
Norden nach Indien kamen. Sie siedelten sich hier an. Man nannte sie Schaken,
ein neues Volk Indiens. Aber in Wirklichkeit waren es Angehörige des
Turkvolkes.
Mehr noch, die
Inder nannten Buddha (seine Lehre kam gerade in jenen Jahren auf) „Schakjamuni“
oder „turkischen Gott“. Folglich ist es durchaus möglich, dass die
buddhistische Lehre vom Turkvolk verbreitet wurde. Und das ist schon, wie zugegeben
werden muss, nicht wenig: Buddha habe die Gestalt eines Nag annehmen
können, behauptet die indische Legende. Mit dem Glauben an den Gott des
Himmels leben in Indien nach wie vor mindestens fünfzig Millionen
Menschen. Sie sind weder Buddhisten noch Moslems. Man nennt sie Christen, aber
als Christen ähneln sie den übrigen Christen der Welt wenig, denn sie
haben andere Riten und Symbole. Sie erkennen das Tengri-Kreuz an, tragen es an
der Brust und beten vor einem Kreuz. Ist das womöglich der einzige Ort auf
der Erde, wo sich der turkische Glaube in seiner ursprünglichen Reinheit
erhalten hat? Wer weiß. Bekanntlich geht auf der Erde nichts spurlos
vorüber.
Spuren der
Vergangenheit geben sich manchmal überraschend zu erkennen, und zwar dort,
wo sie am wenigsten erwartet werden.
Nach Indiens
Legenden zu urteilen, war es das Turkvolk, das den Indern beibrachte, den Boden
mit eisernen Pflügen zu bestellen und die Ernte mit eisernen Sicheln zu
schneiden. Die Inder verbanden die Bodenfruchtbarkeit und reiche Ernten von
alters her nur mit den Nag. Die von den Archäologen im Altai gefundenen
Pflüge und die Sagen aus Indien und Pakistan vereinigen gleichsam die
vereinzelten Nachrichten über das alte Turkvolk zu einem Ganzen und
stellen vieles in der Geschichte richtig.
Übrigens kam
die berühmte indische Reiterei ebenfalls mit der Einwanderung der Altaier
auf. Wir wollen es noch einmal betonen: Der turkische Einfluss auf Indiens
Kultur war in jenen Jahren beträchtlich. Funde der Archäologen, aber
selbstverständlich nicht nur sie, legen Zeugnis davon ab.
Die Einwanderer
aus dem Altai waren ja keine Gäste in Indien, sie wurden vielmehr zu
seinen Bürgern. Heute weist der Stammbaum beinahe jedes zehnten Inders
oder Pakistaners turkische Wurzeln auf. Und das ist immerhin ein nicht geringer
Teil der Bevölkerung.
In Indien war
lange Zeit die berühmte Sonnendynastie – eines der beiden
Herrschergeschlechter – an der Macht. Ihr Begründer war Ikschwaku,
Enkelsohn der Sonne. Dieser Herrscher übersiedelte im 5. Jahrhundert vor
unserer Zeitrechnung aus dem Altai, wo er im Tal des Flusses Aksu lebte, nach
Indien. Nachdem Ikschwaku den Thron bestiegen hatte, begründete er die
Stadt Ajodhja, die Hauptstadt des Staates Koschala (oder Koschkala?). Die Stadt
besteht bis heute und hat ein Museum der Sonnendynastie; dieses beherbergt
Nachrichten über das aus dem Altai eingewanderte Turkvolk.
Die Stadt Ajodhja
erlebte gute und böse Zeiten. Eine Zeitlang nannte man sie sogar die
Hauptstadt Nordindiens, so groß war der Einfluss des Staates Koschala.
Dann geriet die Stadt in Verfall, auf den ihr erneuter Aufschwung folgte. Seit
der turkischen Einwanderung hörte das Leben in Indien auf, ruhig zu sein.
Der Fluss, an dem
die Stadt Ajodhja liegt, heißt Saraja. Offenbar eine weitere
turksprachige geografische Benennung, denn sie weist deutlich auf einen Palast
(Serail) hin. Tatsächlich hatte die Hauptstadt Paläste, Tempel und
schöne Häuser. Der Palast des Herrschers gab denn auch dem Fluss
seinen Namen.
Andere Ortsnamen
in Indien regen ebenfalls zum Nachdenken an, und das recht oft. Woher kommt z.
B. das Wort Hindustan? Die Endung -stan wurde
nur vom Turkvolk gebraucht (Tatarstan, Kasachstan, Baschkortostan, Dagestan:
„stan“ bedeutet in der Turksprache so viel wie „Land“).
Im Leben
hängt alles miteinander zusammen, alles hat seine Fortsetzung und
hinterlässt seine Spuren. Zur Zeit der Sonnendynastie zogen ganze Familien
aus dem Altai nach Indien. Das dauerte jahrhundertelang. Angehörige des
Turkvolkes stiegen in Indien oft zum örtlichen Adel auf, wurden große
Feldherren, Dichter, Wissenschaftler, Geistliche. Nach wie vor sprachen sie
jedoch ihre Muttersprache. Auch das ist in den Sagen, ebenso wie der Baumstamm
so mancher Adligen, festgehalten. So hatten die berühmten Dynastien der
Maharadschas von Udajpur, Dschodhpur und Dschaipur turkische Wurzeln und
stammten eigentlich aus dem Altai.
Auch das ist
nicht weiter verwunderlich, waren doch Indien und der Altai wie ein
einheitliches Riesenland und miteinander durch Straßen verbunden. Einige
davon haben sich bis heute erhalten, z.B. die Straßen von Bijsk und
Nertschinsk.
Die allererste
Straße nach Indien war der legendäre Hängende Durchgang, und er
wurde vom Turkvolk angelegt. Eine rätselhafte Straße, niemand
erinnert sich mehr an sie. Erhalten haben sich nur Sagen und außerdem
Hängebrücken, die seitdem im Pamir und in Tibet gebaut werden.
Dank den
Hängebrücken überwanden die altertümlichen Reiter
Gebirgsflüsse und abgrundtiefe Felsenschluchten. So ritten sie über
den Wolken dahin und fürchteten sich vor nichts.
Lange Zeit wurde
diese Straße von Pilgern benutzt. Sie zogen nach Indien, um ihre
Verwandten zu besuchen, den Heiligen Berg Kailassa und die Stadt Kaschmir zu
sehen.
Für einen
Angehörigen des Turkvolkes war es eine große Freude, den Berg
Kailassa (wie auch Indien als Ganzes) zu sehen. Man glaubte daran, dass ein
Mensch, der ihn gesehen hat, sein Leben lang glücklich sein werde. Denn
auf dem Berg Kailassa war der Sage nach der Ort der Erholung von Tengri Khan,
ein heiliger Ort.
Das Turkvolk im Iran
Nicht nur Indien
lernte damals den Gott des Himmels kennen. Die „weißen Wanderer“
erreichten auch den Iran. Dort haben sich Sagen über Ashi-Dachaka
erhalten, die uns über jene entfernte Zeit Aufschluss geben.
Ashi-Dachaka war
ein fremdländischer Herrscher, der die Macht über den Iran eroberte.
Er lebte in der Gestalt einer Schlange und kämpfte für den Glauben an
den Gott des Himmels. Doch die einfachen Iraner nahmen seinen Glauben nicht an:
Nicht jedes Volk war imstande, dieses Glaubens teilhaftig zu werden.
Die Iraner
blieben noch lange Feueranbeter. Nur der Adel glaubte damals an Tengri. Wie ein
großes Geheimnis überlieferten ihre Generationen die Erinnerung an
ihre Urahnen, die beim Hofe von Ashi-Dachaka gedient hatten. Beziehungsweise
übermittelten sie jeder nächsten Generation, dass sie turkische Ahnen
hatten. Die Rede ist hier von der berühmten Herrscherdynastie der
Arschakiden. Sie wurde im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung von Arsak
(Arschak), einem rothaarigen Einwanderer aus dem Altai, begründet. So steht
es in der Geschichte des Iran geschrieben.
Eine
verblüffende Tatsache: Im Iran hat man die Turksprache bisher nicht
vergessen. So gibt es Städte und Dörfer, ja ganze Regionen, die eine
Turksprache sprechen. Einst nahm der Iran ein Riesenterritorium ein, das ein
Vielfaches seiner heutigen Fläche ausmachte. Als eine Spur jener Zeiten
haben sich Völker und Sagen erhalten.
Das iranische
Kapitel in der turkischen Geschichte begann mit der Einwanderung von Saken
(Schaken), die nach Indien zogen. Dann war da Taschkent, eine uralte Stadt, die
inzwischen ihr 2000-jähriges Jubiläum gefeiert hat. Die Geschichte
dieser Stadt ist insofern charakteristisch, als sie – wie die gesamte
Geschichte des Turkvolkes – gleichsam aus Ungewissheiten zusammengewoben ist.
Gewöhnlich
übersetzt man das Wort Taschkent als „Stadt aus Stein“. Das ist jedoch
nicht ganz genau, weil das Wort „kent“ in der Turksprache schon „Stadt aus
Stein“ bedeutet. Folglich haben wir es hier mit etwas anderem zu tun, mit
etwas, was nur die Toponymik erklären kann.
Professor Eduard
Makarowitsch Mursajew wusste viel um die Fähigkeit des Turkvolkes,
Städten, Flüssen und Bergen Namen zu geben. In seinem Buch versuchte
er, auch die Geschichte des Namens „Taschkent“ zurückzuverfolgen, doch
gelang es ihm nicht, das endgültig zu klären.
Später
erwies es sich, dass das Wort „taschty“ oder „daschty“ in der Turksprache „in
der Fremde“ bedeutete; es kam aus Indien, aus dem Sanskrit, der Priestersprache
(darauf werden wir noch zurückkommen). Wenn es aber um eine „Fremde“
handelt, so lässt sich das Wort Taschkent schon anders deuten, eher
ungefähr so: „eine Stadt aus Stein in der Fremde“. Im Namen wird also
betont, dass die Stadt nicht aus Holzhäusern, wie sie im Altai üblich
waren, sondern aus Steinhäusern bestand.
Warum aber in der
Fremde? Auch das kann beantwortet und erklärt werden.
Mitten in Asien
bestand einst ein großer blühender Staat, Baktrien, ein Bestandteil
der iranischen Großmacht. Sein Ruhm erreichte Europa und zog Alexander
von Mazedonien an, dessen Soldaten dort einfielen. Baktrien verfiel
plötzlich und wurde dann durch langwierige Kriege vollends ruiniert.
Geführt
wurden diese Kriege von Einwanderern aus dem Norden, von „wilden Stämmen“,
wie Historiker sie heute gewöhnlich nennen, d. h. von Angehörigen des
Turkvolkes. Jenes Teils des Turkvolkes, der als „Saken“ bekannt war. Gerade sie
fielen in Baktrien ein. Über den Hängenden Durchgang überwanden
die Saken den unzugänglichen Pamir, und ein Teil von ihnen zog weiter nach
Indien.
Dreihundert Jahre
nach diesen verheerenden Feldzügen, schon im 1. Jahrhundert, erschienen
neue Einwanderer aus dem Altai auf der Bühne der Geschichte. Ihre Fahnen
trugen ein Kreuz, sie brachten einen neuen Glauben mit sich. Ihre Einwanderung
bildet denn auch ein neues, iranisches Kapitel der turkischen Geschichte.
Denn der
Misserfolg Ashi-Dachakas (oder vielmehr seiner Prediger) brachte die turkischen
Truppen nicht zum Stehen. Der Altai schickte seine Reiter nach dem Iran.
Diesmal zeigte die turkische Armee ihre ganze Stärke. Der Krieg um das
Territorium des in Verfall geratenen Baktrien war kurz und entschlossen.
Auf diese Weise
entstand dort das Khanat Kuschan, ein Staat, dessen Geschichte im Nebel liegt,
weil sie unerforscht ist. Heute verbindet man die Geschichte von Kuschan mit vielen
Völkern: den Griechen, den Iranern usw. – nur nicht mit dem Turkvolk.
Taschkent war die
erste turkische Stadt in diesem Teil der Erde. Sie wuchs neben Marakand und
anderen altbaktrischen Städten empor. Denn unweit von Marakand befand sich
ein großes Eisenerzvorkommen, und dieses hatte die Altaier in erster
Linie angezogen.
Die baktrische
Stadt bekam den turkischen Namen Samarkand (offenbar von Sumerkand abgeleitet).
Die Region in der Nähe wurde Eisernes Tor genannt. Eisenerz interessierte
damals nur das Turkvolk.
Kuschan war ein
außerordentlich starkes Reich, das sich das heutige Mittelasien,
Afghanistan, Pakistan, einen Teil Indiens und des Iran, selbst chinesische
Gebiete unterworfen hatte. Leider weiß man vorläufig noch sehr wenig
vom berühmten Kuschanreich. Selbst die Namen seiner Herrscher bleiben ein
Rätsel, obwohl sie sich scheinbar erhalten haben. Das allerdings in der
Sprache der Inder, der Iraner oder der Chinesen, nicht in den Turksprachen. Der
Begründer dieses Khanats ist zum Beispiel unter dem Namen Guwischka
bekannt. Auf seine Münzen wurde der Name „Gowerka“ geprägt. Wie aber
klang er richtig, in der Turksprache? Das bleibt ungewiss.
Archäologen
haben nicht wenig Denkmäler jener Zeit gefunden, einige davon tragen
Inschriften, unverkennbare turkische Runen. Folglich begannen die
Turkvölker schon vor unserer Zeitrechnung diese Fremde zu besiedeln. Daher
die Runen und Taschkent, die „Stadt aus Stein in der Fremde“. Man muss nur den
Willen haben, sie zu sehen: Eisen und die Runensteine kamen dort gleichzeitig
auf.
Im Ort
Dascht-Nawur (wiederum Dascht!) haben französische Archäologen auf
dem Territorium des heutigen Afghanistan Spuren einer anderen turkischen Stadt
aus jener Zeit und in der Nähe einen Felsen mit gleichen Runen gefunden.
Auch in Kara-tepe, das unweit von Taschkent gelegen ist, war eine turkische
Stadt gewesen. Dort entdeckte man unter den Ruinen eines alten Tempels
beschriftete Gefäße. Da wären sie ja, die Botschaften unserer
Ahnen! Aber auf Weisung von Politikern werden sie von Wissenschaftlern
„übersehen“.
Selbstverständlich
lässt sich über jene Zeit auch nach anderen sichtbaren Zeichen
urteilen. Beispielsweise nach den Angehörigen des Turkvolkes selbst, die
hier leben. Die Usbeken sind direkte Nachkommen der Einwanderer aus dem Altai.
Der Staat Usbekistan mit seiner Hauptstadt Taschkent ist ein Stolz der
turkischen Welt. Der Ruhm dieses Landes des Turkvolkes ist sein eigenes
Verdienst. Was könnte überzeugender sein und schwerer ins Gewicht
fallen? Man sollte meinen, eine klarere Aussage über ein Volk findet sich
kaum.
Brüder der
Usbeken leben seit der Kuschan-Zeit nach wie vor in Afghanistan und Pakistan.
Sie nennen sich Paschtunen. Auch sie sind ein großes Volk. Allerdings
haben sie in den seitdem verganenen Jahrhunderten ihre Muttersprache verloren,
heute ist ihre Sprache stark von anderen Dialekten durchsetzt. Die Paschtunen
haben sich das Äußere und die Gebräuche ihrer Ahnen bewahrt,
die eigene Geschichte jedoch vergessen. Trotzdem bilden sie nach wie vor einen
Bestandteil der turkischen Welt, deren Vergangenheit mit dem Alten Altai
verbunden ist.
Von den Turkmenen
kann man so etwas nicht sagen. Dort sieht alles anders aus. Nach allem zu
urteilen, sind sie echte Turaner, wenn sie sich auch ein Turkvolk nennen. Ihnen
bedeuten die Werte der iranischen Kultur mehr. Möglicherweise sind sie in
der turkischen Welt Gäste, die eine fremde Sprache übernommen haben.
Auf jeden Fall sind ihnen die turkischen Verhaltensregeln offensichtlich fremd.
Ein Kapitel
für sich sind die Kirgisen, ein unbestreitbares Turkvolk, das im Pamir
lebt. Sie haben viel der chinesischen Kultur entlehnt, sich jedoch die
turkischen Verhaltensregeln in vollem Umfang bewahrt.
Vermischung von
Kulturen ist eine überaus interessante Erscheinung in der Geschichte der
Völker. Sie existierte immer. Im Kuschanreich übernahm die Altaier
Kultur all das Beste, was die örtlichen, die Turan-Völker hatten, und
gab ihnen das Beste von ihrer Kultur. Kuschan wird von Wissenschaftlern oft ein
„Schmelztiegel“ der Kulturen der orientalischen Völker genannt.
Angehörige des Turkvolkes, Iraner, Inder lebten jahrhundertelang sozusagen
Schulter an Schulter, und vieles in ihrem jeweiligen Leben vermischte sich mit
vielem im Leben ihrer Nachbarn.
Naturgemäß
bekam das Turkvolk hier, in Zentralasien, ein neues Antlitz. Die Jahrhunderte
gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Die hiesigen Angehörigen des
Turkvolkes unterschieden sich schon seit langem von ihren Altaier Verwandten.
Im Grunde besaßen sie bereits eine neue turkische Kultur. Deshalb nannte man
sie Oghusen („oghus“ heißt so viel wie „weise“, „viel erfahren“).
Der große
„Schmelztiegel“ der Völker bescherte der Welt große Wissenschaftler,
Dichter, Theologen und Ärzte, die dem Orient, der Welt der Turkvölker
und der ganzen Menschheit Ruhm einbrachten. Es scheint, als hätte hier der
Boden selbst Weise geboren. Sie leuchten wie Sterne erster Größe am
Firmament der Kultur der Menschheit.
Wer ins
Kuschanreich kam, staunte über dessen blühende Städte, mit
prächtigen Statuen geschmückte Paläste und die herrliche
Architektur der Tempel. Und selbstverständlich über die Dichter, die
in paradiesisch schönen Gärten zum Vogelgezwitscher ihre Gedichte
vortrugen.
Gute
Nachbarschaft der Völker ist ein unergründliches Phänomen.
Allmählich verändert sie sehr vieles. Selbst das Äußere
der Menschen. Die turksprachigen Oghusen z. B. bekamen mit der Zeit
überwiegend braune Augen und dunkle Haare. Aber ihr Charakter hatte sich
nicht verändert: sie behielten das aufbrausende Temperament ihrer Ahnen
vom Altai bei.
Zugleich war das
ein sehr bedachtsames Volk.
Der berühmte Khan Erke
Die Welt erfuhr
im 1. Jahrhundert vom großen Kuschanreich. Seinen Ruhm verdankte er in
vieler Hinsicht dem hervorragenden turkischen Herrscher Kanischka. Zum
Glück hat sich sein echter Name erhalten. Er hieß Khan Erke
(„Kanerka“, wie auf den Münzen geprägt wurde).
Ein Philosoph,
Dichter, glänzender Herrscher und Feldherr, trug Khan Erke wie kein
anderer zum Aufblühen der turkischen Kultur bei. Dank ihm errang sie den
höchsten Rang im Orient. Während seiner Herrschaft wurde das Wort
„turkisch“ voll Respekt und andächtig ausgesprochen – ungefähr so,
wie man das Wort „heilig“ ausspricht.
Erke bestieg den
Thron des Kuschanreiches im Jahre 78 und regierte 23 Jahre lang. Die Hauptwaffe
des überaus weisen Khans waren nicht Säbel, Speere oder eiserne
Panzer, sondern es war das Wort. Das stärkste Wort der Welt hieß
„Gott“. Ebendieses Wort brachte ihm und der ganzen turkischen Welt viele Siege.
Khan Erke
schenkte dem Orient den Glauben an Tengri.
Was ihm dabei
half, war der Umstand, dass er in allem, was die Riten, Gebete und die Lehre
selbst betraf, außerordentlich gut bewandert war. Seine Reden klangen
schön und richtig, man hörte ihm stundenlang zu, denn der Herrscher
war ein ungewöhnlich gebildeter Mann. Seine Reden und seine auf Vernunft
beruhende Politik zeigten den Menschen des Orients, dass die turkischen
Einwanderer nicht Gold, nicht Intrigen und die Macht über andere
Völker am meisten schätzten. Sie legten vielmehr Wert auf gute Taten
und Edelmut. Der Herrscher war eine Verkörperung seines Volkes. Vertraute
man ihm, so vertraute man auch dem Volk.
Khan Erke wusste
davon zu überzeugen, dass jeder Mensch selbst, d.h. durch sein Verhalten,
das Paradies oder die Hölle auf Erden für sich und seine Nahen schaffe.
Niemand dürfe die Schuld am eigenen Unglück, an der eigenen Not
anderen zuschreiben, lehrte er, nur sich selbst. Denn Gott gebe einem jeden,
was er verdient habe.
Das sei das
Gottesgericht, das gerechteste Gericht der Welt. Unter dem Ewigen Blauen Himmel
bestünden nur du, deine Taten und Gott, der über sie richte. Alles
Übrige sei nicht so wichtig. Die Idee des neuen Glaubens war höchst
einfach: Man tue Gutes, und die Welt werde es einem mit Gutem vergelten.
Die Menschen
verstanden diese schlichte Wahrheit und akzeptierten sie. Denn kein anderes
Volk hatte eine solche Weisheit. Gerade das zog sie an der turkischen
religiösen Kultur an: Alles liegt in deiner Hand – nur darfst du das nicht
vergessen.
Das Turkvolk
glaubte z. B. an die Ewigkeit der Seele und an die Seelenwanderung nach dem
Tode. Ein jeder wusste, dass im künftigen Leben selbst der schlimmste
Sünder seine Sünden sühnen könne. So bekomme er eine Chance
und die Hoffnung bereits in seinem irdischen Leben. Dadurch stärkte der
Glaube an Tengri den Geist der Menschen und regte sie zu Großtaten an.
„Die Rettung
liegt in guten Taten“, lehrte Khan Erke unermüdlich.
Fremde staunten
auch über das turkische Tengri-Ritual, das sehr imposant und feierlich
war. Der Name des Gottes des Himmels wurde nie in Eile erwähnt. Das Ritual
zeichnete sich durch seinen Ernst und seine Gemessenheit aus. Die heidnische
Welt kannte eine solche Pracht und Herrlichkeit nicht, hatte nie von etwas
Ähnlichem auch nur gehört.
Den Heiden kamen
die turkischen Einwanderer wie Ankömmlinge von einem anderen Planeten vor.
Bei ihnen war alles besser und sauberer, deshalb nannte man den Altai im Orient
das Paradies auf Erden und sie selbst Arier. Diesen Namen bewahrte sich die
Heimat des Turkvolkes (ebenso wie Schambhkala in Indien) über tausend
Jahre, und um die Reiter selbst rankten sich zahlreiche Sagen.
Die Städte
in Kuschan erwachten unter Khan Erke zum melodischen Glockengeläut: Die
Geistlichen riefen das Volk zum Morgengebet. Das müssen aufwühlende
Minuten gewesen sein.
Leider weiß
man sehr wenig von den Glocken. Wie waren sie beschaffen? Wie sahen die
Glockentürme aus? Heute weiß das niemand. Doch Glocken waren schon
da (das ist dank Ausgrabungen bekannt). Selbst das Wort kam möglicherweise
in jenen fernen Zeiten auf. In der alten Turksprache bedeutete es eine Anrufung
des Himmels, wortwörtlich: „Flehe den Himmel an“. Und die Menschen taten
das.
Gebetet wurde
neben dem Tempel, unter Tengris hohem Himmel. Ebenso hatte man einst im Altai
neben den heiligen Bergen gebetet. Die Tempel waren, nach ihren Ruinen zu
urteilen, nicht übermäßig groß. Ursprünglich waren
sie wie eine Erinnerung an die heiligen Berge, später aber entwickelten
sie sich zu einem Objekt der Architektur.
Hineingehen
durften die Betenden nicht. Das war den Geistlichen allein vorbehalten, und
auch sie betraten den Tempel lediglich für ein paar Minuten. Selbst das
Atmen im Tempel war ihnen verwehrt, denn das war ein heiliger Ort.
Andere
Völker hielten es anders damit. Bei ihnen durften die Anhänger des
jeweiligen Glaubens die Tempel betreten. Möglicherweise übernahm das
Turkvolk später diesen Brauch. (Leider weiß die Wissenschaft noch
wenig davon, wie sich die einen oder anderen Kulturtraditionen entwickelten und
weshalb die einen ihren Platz anderen abtraten.)
Vor dem Gebet
wurde himmlischer Weihrauch verbrannt, und zwar in besonderen Behältern
(Kadilo, vgl. das russ. Kadilo,
Weihrauchfässchen). Einer alten altaischen Sage nach vertrügen die
bösen Geister keinen aromatischen Duft. (Der Ritus hieß in der alten
Turksprache „kadyt“, das bedeutete „abwenden“, „abschrecken“.)
Gebetet wurde zu
leisem Gesang. Der Chor sang ausdrucksvoll himmlische Weisen, um den Gott des
Himmels zu verherrlichen. Diese gesungenen Gebete hießen „jyrmas“, was
wortwörtlich „unsere Lieder“ bedeutete.
Und überall
war in der turkischen geistlichen Kultur das gleichseitige Tengri-Kreuz
anzutreffen. Im Orient hieß es „Wadschra“.
Khan Erke scheute
keine Mühe bei der Verbreitung des Glaubens. Das war ein Ereignis, ein
großes Ereignis, das die Völker des Orients ihrem Gedächtnis
fest einprägten. Was die Tengri-Kreuze, die Ruinen der turkischen
Städte und Tempel jener „Kuschaner“ Zeit betrifft, so gerieten sie ins
Blickfeld von Archäologen, deshalb sind die Zusammenhänge bekannt.
Man kann nur
ahnen, welche Verwirrung in den Seelen der Menschen herrschte, die nicht an
Tengri glaubten. Sie waren bestürzt, niedergeschlagen, vom Gefühl
ihrer Schwäche gequält.
Es darf
natürlich nicht vergessen werden, dass Eisen, die herrliche Armee, der
Wohlstand im Lande ebenfalls von der hohen Bestimmung der turkischen Kultur
überzeugten, doch auf eine andere Weise als der Gottesdienst. Deshalb
wurde der Altai und später das Kuschanreich zu den religiösen Zentren
des Orients. Zum Turkvolk, in seine Heimat zogen die Menschen wie ins Paradies.
(Übrigens sind spätere altertümliche Landkarten bekannt, auf
denen der Altai tatsächlich Paradies auf Erden heißt.) Abgesandte
anderer Völker kamen hierher, um der turkischen Kultur teilhaftig zu
werden. Für Fremde wurden im Kuschanreich die Kunstschule von Gandhar
sowie geistliche Lehrzentren eröffnet. Offenbar gab es solche Zentren auch
im Altai.
Ebenfalls im
Altai lernte seinerzeit der Jude Jeschua, der nach Moses (Mussa)
hierhergekommen war. Indirekt wird das im Koran erwähnt. Dieser Jeschua
brachte denn auch später die Nachricht über die Reiter des Gottes des
Himmels ins römische Kaiserreich. Seine Worte sind in der Apokalypse, dem
allerersten Buch der Christen, festgehalten. Deshalb nannte man ihn Jesus
Christus (Issa), den „Gesalbten Gottes“, d. h. den Menschen, „der
Göttliches gesehen hat“. Häufige und gern gesehene Gäste des
Herrschers von Kuschan waren Geistliche aus Indien und Tibet. Das war logisch,
denn Khan Erke verwandelte Kaschmir in eine geheiligte Stadt, einen Pilgerort.
Pilger aus dem
Altai hatten in Kaschmir ihren eigenen Tempel. Dort wurde die Turksprache
gesprochen. Offenbar war das der bis heute berühmte Goldene Tempel.
Khan Erke widmete
seine Kräfte und seine Zeit einem guten Werk, und dieses brachte reiche
Früchte, die der ganzen turkischen Welt Nutzen brachten. Die Anhänger
Buddhas kamen in Kaschmir zu ihrem IV. Konzil zusammen. Viele bekannte
Buddhisten des Orients trafen ein. Sie erkannten den Namen Tengris und seine
Lehre an, die den Buddhismus um einen neuen Inhalt (Mahayana) bereicherte.
Der Text des
neuen Ritus wurde auf Kupferplatten geprägt, die sofort zu einem Heiligtum
des Buddhismus in China, Tibet und der Mongolei wurden (und es bis heute
bleiben). Seit dem Aufkommen dieser Platten, genauer: seit dem IV. Konzil der
Geistlichen entstand ein neuer Zweig der buddhistischen Religion, der
später den Namen Lamaismus bekam.
Seine
Verbündete gewann Khan Erke, der größte Aufklärer des
Orients, dank seiner Weisheit. Er wurde von den Buddhisten heilig gesprochen,
sein Name wird in Gebeten erwähnt, und nur das Turkvolk erinnert sich
nicht mehr an seinen ruhmreichen Khan.
Zum Glück
bewahren ihn andere Völker im Gedächtnis.
Straßen, die in die
Steppe führten
Das
Aufblühen des Kuschanreiches im 2. Jahrhundert schien den Altai erweckt
oder, richtiger, in Bewegung gebracht zu haben. Dafür gab es auch
Gründe.
Im Altai ist das
Klima härter als in Mittelasien. Deshalb waren die Ernten dort schlechter.
Im Gebirge gibt es ja meist wenig bestellbaren Boden, so dass ein wahrer
Wohlstand da gewöhnlich ausbleibt. So blickten die altaischen Khans nach
der Steppe. Fruchtbaren Boden gab es da im Überfluss, doch das Leben in
der Steppe schien kaum möglich.
Die Steppe
flößte den Menschen seit alters Angst ein. Keine Bäume – also
auch kein Holz für den Herd, keine Baumstämme für Häuser
und Kurens. Wenig Flüsse – also auch kein Wasser für das Vieh und
für Gemüsegärten, ja manchmal auch nur zum Trinken. „Die Steppe
ist das Land der Finsternis“, flüsterten alte Leute.
Sie hatten Recht.
Dort gab es nicht einmal Orientierungspunkte, nur flache Ebene, soweit das Auge
reicht, und die Sonne darüber. Wohin gehen? Wie den Weg finden? Zudem
bisweilen wochenlange, furchtbare Winde. Bei einem Sturm kann der Schnee eine
Siedlung im Nu bis zu den Hausdächern zuschütten.
Das Steppenklima
ist alles andere als milde. Selbst die Urmenschen siedelten dort nie, sie
mieden die Steppe. Im Gebirge, an Meeresküsten, in Wäldern
ließen sie sich sehr wohl nieder, aber nicht in der Steppe. Wenn
unvorbereitet, kann der Mensch dort nicht überleben. Er kann zum Beispiel
nicht lange laufen: So fest sein Schuhwerk auch sein mag, wird es durch das
harte Gras rasch aufgerieben. Barfuß gehen erst ist völlig
unmöglich.
Doch einen
anderen Ausweg hatten die Altaier nicht. Nur über die Steppe führte
der Weg zum Leben: zu üppigen Weideplätzen, fruchtbaren
Ackerböden, schließlich zu neuen Horizonten.
Die Altaier
legten ihr Schicksal gleichsam auf die Waagschale: Welche Schale werde sinken?
Bekanntlich sind Hoffnung und Angst wie die zwei Flügel des Menschen. Die
Hoffnung siegte.
Vorsichtig und
nicht ohne Bedenken zogen die ersten Sippen in die Steppe aus. Im Altai aber
kam das Wort „Kyptschak“ wieder in Gebrauch. So hießen Übersiedler
schon immer, noch seit den Zeiten der ersten Wanderungen nach Indien. Welchen
Sinn hatte diese Bezeichnung? Sie wird unterschiedlich übersetzt,
beispielsweise als „jene, denen es zu eng ist“.
Im Übrigen
ist auch etwas anderes nicht ausgeschlossen. „Kyptschak“ ist der Name einer der
ältesten turkischen Sippen. Möglich, dass diese einst als Erste aus
dem Altai ausgewandert war, und die späteren Übersiedler wurden nach
ihr genannt.
Wie dem auch sei,
nur ein starker Stamm konnte es mit der rauen Steppe aufnehmen. Nur ein starkes
Volk vermochte es, sich dort anzusiedeln. Die Übersiedler entschieden
selbst über ihr Schicksal, niemand vertrieb sie vom Altai, sie
verließen es von selbst. Sie gingen jedoch nicht mit leeren Händen.
Dieses Volk hatte die damals weltbesten Arbeitsinstrumente: solche aus Eisen!
Es hatte außerordentlich reiche Erfahrungen des Lebens in Indien,
Mittelasien und natürlich im Ural und Alten Altai. Leider scheinen die
Historiker all das gleichsam vergessen zu haben.
Braucht man sich
da zu wundern, dass in der Steppe rasch Städte und Stanizas entstanden? Es
wurden Straßen verlegt, Übersetzstellen an Flüssen
eingerichtet, Kanäle gegraben. So sehen die konkreten Taten eines starken
Volkes aus, ihre Spuren überdauern Jahrhunderte. Heute bilden sie
Schätze der Archäologen.
Mit den Jahren
verwandelte sich Semiretschje (Siebenstromgebiet), ein neues turkisches Khanat,
in eine blühende Region. Die Städte strahlten in der Steppe wie
Sterne am Himmel. Sie mögen eine nicht sehr ausgesuchte Architektur gehabt
und von keiner auserwählten Schönheit gewesen sein. Ihre Bestimmung
war anders.
In unserer Zeit
erforschte der namhafte kasachische Archäologe Akademiemitglied Alkej
Chakenowitsch Margulan diese Städte. Zum erstenmal sah er die
altertümlichen Ruinen zufällig, von einem Flugzeug aus. Der erfahrene
Wissenschaftler bemerkte in der unübersehbaren Steppe Trümmer von
Gebäuden, die von Gras überwuchert und mit Sand zugeschüttet
waren. Später dann fuhr Alkej Margulan in die Steppe, zum Ort der
verfallenen Städte und schrieb ein Buch darüber.
Vieles bleibt
jedoch bis heute unerkannt. Dazu waren die Forschungen viel zu umfangreich und
kompliziert. Es handelt sich um eine sehr wichtige Zeit in der Geschichte der
Menschheit: Die Menschen begannen, die Steppe zu bewohnen, eine Naturzone, die
früher unbewohnt gewesen war. (Die Rede ist selbstverständlich nicht
von vereinzelten Ansiedlungen, sondern eben von der Besiedlung eines bis dahin
unbewohnten Teils unseres Planeten.)
Jene Epoche hat
die Wissenschaft mit zahlreichen Fragen konfrontiert. Zum Beispiel: Wie
bewegten sich die Menschen fort? Welche Fahrzeuge benutzten sie? Es ist sehr
wichtig, dies zu wissen. Die Frage ist nur auf den ersten Blick einfach. Zu
Fuß konnte man nicht in die Steppe ausziehen, auch nicht viel Last mit
sich tragen. Also musste etwas erfunden werden, was bis dahin nicht da gewesen
war. Was konkret?
Gewiss, das
Turkvolk war ein Volk der Reiter, sie hatten das Pferd gesattelt. Aber ein
Reiter befördert nur sich selbst. Was macht er aber mit der Fracht? Mit
all dem, was für die Bautätigkeit, den Herd, das Heim notwendig ist?
Alles musste ja auf Vorrat mitgeführt, also irgendwie befördert
werden.
Die Lasttiere der
Araber waren damals Kamele, die der Inder Elefanten, die der Chinesen
Büffel und die der Iraner Esel. Das Turkvolk hatte seine Pferde. Und die
Pferde kamen ihm zu Hilfe.
Heute sind
Leiterwagen und Britschkas eine allbekannte Sache. Die altertümlichen
Altaier kannten nichts davon, sie hatten das Rad nicht erfunden: Für das
Leben im Gebirge waren Radfahrzeuge nicht sehr geeignet, ja nicht nötig.
So mussten sie das Rad den Lebensbedingungen in der Steppe anpassen. Mit
Radfahrzeugen begann die Besiedlung der Steppe. Das war eine hervorragende
Errungenschaft der menschlichen Intelligenz.
Wer hat das
Radfahrzeug, die Britschka erfunden? Natürlich das Turkvolk. Denn es kam
die Zeit, da es sie benötigte. Folglich sind die Beförderungsmittel
ebenfalls ein Unterscheidungsmerkmal der turkischen Kultur, noch eines neben
dem Ziegel, dem Blockhaus oder dem Filz.
Die Namen der
Erfinder sind in Vergessenheit geraten, das Radfahrzeug aber dient den Menschen
bis heute. „Telegan“ (vgl. das russ. Telega, Leiterwagen) bedeutete in der
alten Turksprache „Rad“, also im Grunde Beförderung mit Radfahrzeugen.
Die Britschka
entstand später. Sie gleicht dem Leiterwagen, ist jedoch besser, für
die Steppe wie geschaffen. Eine mit zwei oder drei Pferden bespannte Britschka
wurde zu einem Schnelltransportmittel. Die Nebenformen waren Kadarkas und
Tarantas. Solche Dreigespanne (Troikas) sausten in der Steppe mit Windeseile
dahin, Staubwolken aufwirbelnd.
Für sie
wurden Straßen gebaut und zwischen den Städten „Jam“ angelegt (so
hießen beim Turkvolk seine Posteinrichtungen; vgl. das russ. Jamschtschik, Kutscher). Niemand fuhr in
jener Zeit schneller als sie. Eine Postler-Troika transportierte ihre Fracht
mit unerhörter Geschwindigkeit: bis zu 200 und sogar 300 Kilometer am Tag.
Das war nicht
einfach viel, sondern sehr, sehr viel. Vergleichsweise: Damals bewegten sich
die Menschen über die Straßen mit einer Geschwindigkeit von 20 – 30
Kilometer am Tag. Nur Angehörige des Turkvolkes hatten keine Angst vor
Entfernungen, ihre Troikas flogen nur so dahin. Dieses Volk unterwarf sich Raum
und Zeit.
Die Steppe des
Siebenstromgebiets sah damals die Jamschtschiks früher als alle anderen
Regionen.
Die Große Völkerwanderung
Das Vordringen
des Turkvolkes in die Steppe war ein grandioses Ereignis in der Geschichte der
Menschheit. Damit zu vergleichen ist höchstens die Entdeckung und
Besiedlung Amerikas. Doch damals war alles viel grandioser und hatte
größere Dimensionen: Eine neue Naturzone der Erde wurde erschlossen!
Diese
Übersiedlung nannte man die Große
Völkerwanderung, sie begann im Altai im 2. Jahrhundert, bewegte sich
in Richtung Europa und dauerte länger als 300 Jahre.
Massierte
Übersiedlungen turkischer Sippen gab es gewiss auch früher: nach
Indien, dem Iran, nach Mittelasien. Aber sie waren eben nur massiert, keine
große Völkerwanderung. Auch die Auswanderung der Skythen in die
Steppe wurde nicht als groß bezeichnet: Dazu waren sie damals
zahlenmäßig und auch sonst viel zu schwach.
Dreihundert Jahre
ist viel Zeit. Aber die Besiedlung neuer Lande konnte auch nicht schnell vor
sich gehen. Sonst hätte man sie nicht groß genannt.
Die Kiptschak
gingen durch die Steppe wie auf einem über dem Abgrund gespannten Seil:
vorsichtig und doch sicher. Sie vollbrachten ein Werk, das anderen Völkern
über die Kräfte ging. Damals kamen zahlreiche beeindruckende
Erfindungen auf. Sie erleichterten das Leben und verliehen Sicherheit. Im
Grunde halfen diese Erfindungen dem Turkvolk, in der leblosen Steppe zu
überleben.
Die Britschka
z.B. erhielt ein Verdeck. So entstand die Kibitka, ein bequemes Haus auf
Rädern. Man legte die Kibitka der Wärme wegen mit Filz aus, und so
kam ein Zelt zustande, das auch im Winter warm blieb. Wenn sich mehrere Zelte
zum Übernachten ansammelten, wurden sie in einem Kreis aufgebaut, so dass
eine kleine Stadt auf Rädern entstand. Das nahm nur einige wenige Minuten
in Anspruch, die Menschen hatten aber nicht nur eine Unterkunft in der Steppe,
sondern auch eine Art Festung.
Filz erlangte
beim Turkvolk eine neue Eigenschaft, die eines Baumaterials. Auch das war eine
sehr wichtige Erfindung, weil ein mit Filz ausgelegtes Zelt im kalten Winter
warm und im heißen Sommer kühl war. Kein anderes Volk wusste die
Wolle so schnell und einfach und zugleich so fein zu bearbeiten.
Ein Gegenstand
aus Filz wird im Regen nicht nass, denn die Tropfen laufen an den Härchen
hinunter. Die Reiter hatten nun Überwürfe aus Filz (Jepantscha,
weiter runder Filzmantel ohne Ärmel; auch Burka genannt). Aus Filz stellte
man schöne Teppiche (Arbabasch) und warme Stiefel her. Es gab geschickte
Handwerker, die die Wolle so gekonnt walkten, dass sich die neuen
Steppenbewohner Kleidung und Hüte daraus anfertigten. Filz ist zweifellos
eine Visitenkarte des Turkvolkes, ein weiteres Zeugnis seiner Geschicklichkeit
und Intelligenz.
Im fahrenden
Wohnzelt war der Boden mit einem Filzteppich bespannt, darauf stand ein
Sumawar, in dem bei der Reise Wasser gekocht oder auch Essen zubereitet wurde.
Bis heute ist nichts erfunden worden, was einfacher und wirtschaftlicher als
ein Sumawar wäre. Zwar heißt er heutzutage „russischer Samowar“, ist
aber eine turkische Erfindung. Ebenso wie das Dreigespann der Jamschtschiks kam
er in der Zeit der Großen Völkerwanderung auf.
Die Steppe gab
dem Turkvolk damals viel ein und brachte ihm viel bei.
Aber auch die
alten Altaier Traditionen wurden nicht vergessen. Neues ergänzte nur das
Alte. Das Gebirge lebte in den Herzen der Menschen fort, sie träumten vom
ihm in der Nacht. Und so kam etwas Seltsames zustande: Es wuchsen neue
turkische Generationen heran, die das Gebirge nie gesehen, nur von ihm
gehört hatten, es jedoch verehrten.
Im Ergebnis
entstand in der Steppe eine weitere erstaunliche Erscheinung der turkischen
Kultur: Kurgane, die
Hügelgräber, eine Art von Menschenhand gemachte Kopie der Berge. Sie
waren eine sichtbare Fortsetzung der Altaier Traditionen, ein weiteres Zeichen
der Anwesenheit des Turkvolkes auf dem Planeten Erde!
Ein Kurgan wurde
am Bestattungsort eines Khans oder eines berühmten Feldherrn
aufgeschüttet und galt als heilig. Neben ihm trauerten die Kiptschak, die
Steppenbewohner, um ihre Toten und beteten zu Tengri. Man befolgte so die
Gebote der Ahnen, die ja ebenfalls neben heiligen Bergen gebetet hatten. In der
Steppe nun gingen die Kiptschak nach dem alten Ritus und doch etwas anders vor.
Bei der
Erforschung von Kurganen machten die Archäologen eine überraschende
Entdeckung. Wie sich erweist, waren die Steppenkurgane ein Bauwerk! Nicht einfach
aufgeschüttet, sondern eben gebaut. Ein Kurgan ist eine
ingenieurtechnische Anlage, die viel verraten kann.
In der ersten
Zeit bestatteten die Kiptschak ihre Toten ebenso wie im Altai. Aber die Steppe
hat eine andere Natur, deshalb musste sich auch die Bestattungsart ändern.
Bei den alten
Altaiern war es häufiger so, dass sie die Toten nicht beerdigten, sondern
dem Himmel anvertrauten. Es vollzog sich ein Ritual, das nur bei Bergbewohnern
entstehen konnte. Ein Grab lässt sich in einem Felsen oder im ewigen
Frostboden oft gar nicht ausheben.
Die Altaier
trugen den in weißes Gewebe eingewickelten Toten zu einem heiligen Ort
und ließen ihn dort auf einem erhöhten Platz aus Stein liegen. In
der Nähe wurde ein Feuer aus trockenen, mit Fett durchtränkten Zweigen
angelegt. Die Rauchsäule zog Raubvögel an, und sie kamen aus dem
umliegenden Gebirge zu einem Totenmahl angeflogen.
Auf dem
Abschiedsstein blieben nur braune Flecke und Gebeine liegen.
Diese
Bestattungsart hatte einen tiefen Sinn, in ihr war eine ganze philosophische
Lehre eingeschlossen. Das Turkvolk glaubte, dass der Tod den Beginn eines neuen
Lebens bedeute. Denn die Seele des Menschen sei unvergänglich, nach dem
Tod sterbe sie nicht, vielmehr gehe sie in den Körper eines anderen
Menschen oder eines Tieres über. Der Körper des Toten wurde also
diesem neuen, entstehenden Leben zur Gabe gemacht.
In anderen
Fällen beerdigten die alten Altaier ihre Toten meist an einem Berggipfel.
Hierbei bauten sie in der Erde ein kleines Holzgerüst, eine Art „Heim“
für den Verstorbenen.
Die
Holzgerüste in den Gräbern sind eine frühe Form von Särgen,
in denen heute beinahe alle europäischen Völker ihre Toten begraben.
So war es im
Altai gewesen. Aber die Steppe hat wie gesagt eine andere Natur. Deshalb ging
man dazu über, die Toten nur zu beerdigen. Für den Adel baute man
Holzgerüste und Kurgane, an deren Gipfel man ein Denkmal aufstellte. Es
glich dem altertümlichen Abschiedsstein, auf dem Raubvögel ihr
Totenmahl eingenommen hatten.
Das
Holzgerüst befand sich innerhalb des Kurgans und beherbergte den
Verstorbenen, neben ihm lagen Speisen, Waffen, allerlei Gegenstände, das
geschlachtete Pferd und die toten Sklaven. In dieses letzte „Heim“ führte
von oben ein unterirdischer Gang, über den Geistliche hinabstiegen. Einen
unterirdischen Gang gab es bei weitem nicht in allen Kurganen, sondern nur
dort, wo besonders verehrte Menschen – also Heilige – begraben wurden.
Die
Hügelgräber veränderten die Landschaft um die turkischen
Siedlungen. Nun gehörten sie zu dem Volk! Denn das Wort „Kurgan“ bedeutete
bei den Nachbarvölkern in alten Zeiten so viel wie „Grenze“. Die Menschen
wussten: Wo Kurgane sind, da ist auch das Turkvolk, da ist also fremder Boden.
Nicht nur das
verraten die Steppenkurgane den Archäologen. Wie sie herausgefunden haben,
dienten die Hügelgräber außerdem als von weit her sichtbare
Orientierungspunkte, weshalb sie längs der Straßen gebaut wurden.
Auch das entwickelte sich zu einer Tradition, Friedhöfe werden in der
Steppe bis heute längs einer breiteren Straße angelegt.
Aber die
überraschendste Bestimmung der Kurgane offenbarte sich gegen das 3.
Jahrhundert. Früher hatte es so etwas nicht gegeben. Für den
Steppenbewohner wurde der Kurgan zu einem Tempel unter freiem Himmel – wie
einst die heiligen Berge. Vor dem Eingang zu einem Hügelgrab legte man
einen Platz an, der „charam“ hieß (vgl. das russ. Chram, Tempel, Kirche). Auf dem Platz durfte man nicht sprechen,
erlaubt wurde nur das Gebet. An der Spitze eines Kurgans baute man anstelle des
einstigen Denkmals aus Ziegeln etwas wie ein Zelt auf.
Was war das? Wozu
diente es? Es kann sein, dass die Menschen die rituelle Anlage so dem heiligen
Berg Kailassa nachgestalteten. Es kann auch andere Gründe dafür
gegeben haben.
Wenn unsere
Vermutung richtig ist, dann ist begreiflich, warum um das 4. Jahrhundert in der
Steppe die ersten Tempel aufkamen. Das waren wirkliche Tempel, in denen
Reliquien aufbewahrt wurden und neben denen man betete. Die Kiptschak nannten
sie „Kilissa“, d. h. Kirche (vom Wort „Kailassa“).
Der Zeltstil
ahmte die Umrisse des heiligen Berges nach und setzte sich in der sakralen
Architektur gerade damals durch. Das war ein weiteres neues Merkmal der
turkischen religiösen Kultur. Seitdem führten die Kiptschak ihre
Tempel nur an einem erhöhten Ort auf, gleichsam auf einem Kurgan. Oder auf
dem Grab hervorragender Persönlichkeiten.
So viele
Geheimnisse verbergen, wie wir sehen, die gewöhnlichen Steppenkurgane, die
nur auf den ersten Blick wie aufgeschüttete Erdhügel aussehen.
Die Große
Völkerwanderung war offensichtlich nicht eine Bewegung hungriger und
zerlumpter Horden, wie das einige Wissenschaftler darstellen. Sie war eine
Vorwärtsbewegung und Entwicklung der Kultur des Großen Altai auf dem
Territorium Eurasiens. Das Turkvolk tat einen Schritt zur Annäherung von
Ost und West, und das war eine titanische Leistung, schon an sich ein
zweifelsohne hervorragendes historisches Ereignis. Anders gesagt: Indem das
Volk seinen neuen Staat gründete, verband es gleichsam die abgesonderten
Teile der alten Welt zu einem Ganzen. So bildete sich Eurasien heraus.
Fünf
Generationen, fünfmal Menschenleben waren vergangen, ehe die Kiptschak den
Kaukasus, die Grenzen des Römischen Reiches erreichten. Das tat Khan
Aktasch. Er war der Erste, der den Westen sah.
Khan Aktasch
Die Reiter erblickten
das Flussufer unerwartet – und blieben wie verzaubert stehen. Einen so
wasserreichen Strom hatten die Kiptschak seit langem nicht gesehen. Sie nannten
ihn Idel (Wolga). Dann schlugen sie wie auch sonst ein Lager am Ufer auf und
begaben sich auf die Erkundung der Gegend.
Über kurz
oder lang berichtete der Erkundungstrupp über Menschen, die da lebten und
eine unverständliche Sprache sprachen. So (oder vielleicht ganz anders)
begegneten sich Ost und West: das Turkvolk und die Einwohner Europas.
Wer waren diese
Europäer? Mit Sicherheit kann das heute niemand sagen.
Der Strom
mündete damals zwar ebenfalls ins Kaspische Meer, aber an einer ganz
anderen Stelle als die heutige Wolga, vielmehr etwa 300 Kilometer weiter
südlich. Der Strom machte eine breite Schleife, brach in die Kaukasische
Steppe ein und trat nah an die Berge des Kaukasus. Wer damals an jenem Ort am
Ufer lebte, den die Kiptschak erreichten, ist heute ungewiss.
Das alte
Idel-Bett hat sich erhalten, was nicht von den Denkmälern jener Zeit gesagt
werden kann. Die Zeit verschont bekanntlich nicht einmal Steine. Vieles ist
verloren gegangen. Trotzdem liegen Forschungsmaterialien vor.
Beispielsweise
altertümliche Städte. Viel kann man heute von ihnen zwar nicht
erfahren, denn sie sind gleichsam auf dem Boden zerflossen, sich in Schmutz
aufgelöst. Sie wurden ja aus mit gehäckseltem Stroh vermischtem Lehm
gebaut. Dieses Baumaterial hieß Saman. Die Häuser waren zwar warm,
aber kurzlebig. Bei Regenfällen oder Frost zerfloss der Lehm. Nur die
Ziegelfundamente haben sich erhalten und den Archäologen Aufschluss
darüber gegeben, wer die Erbauer waren: nämlich die Kiptschak. Sie
allein hinterließen solche Spuren in der Steppe.
Es ist doch
erstaunlich, wie viel einem aufmerksamen Archäologen ein gewöhnlicher
Ziegel, also im Ofen gebrannter Lehm, erzählen kann. Beispielsweise
konnten sie anhand solcher Ziegel die turkischen Längenmaße
feststellen. Wie sich erweist, benutzten die Bauleute mehrere
Maßeinheiten. Die Maße Arschin (ca. 70 cm) und Sashen (ewas
über 2 m) hatten ihnen schon im Altai gedient. Aber das Hauptmaß war
immer der Ziegelstein, seine Länge.
Die turkischen
Handwerker fertigten ihre Ziegel immer so an, dass sie 26 – 27 cm lang und 5 –
6 cm dick waren. Die Hälfte der Länge bildete die Breite, sie bedeckte
gerade die Handfläche eines Mannes. Alles war sehr praktisch.
Aus solchen
Ziegeln wurden in der ganzen Steppe, vom Baikalsee bis nach Westeuropa,
tausende Gebäude gebaut. Einige Ziegel wiesen ein Tamga (das individuelle
Zeichen) des Erbauers auf, damit man ihn nicht mit anderen verwechselte.
Es gab auch
quadratische Ziegel. Aber auch sie waren sich überall gleich, ebenfalls an
allen Seiten 26 – 27 cm lang. Siebeneinhalb Ziegel machten einen Sashen aus
(Mörtel selbstverständlich mitgerechnet). Das war eine
Längeneinheit. Ein Sashen war drei Arschin lang.
Die turkische
Architektur hatte demnach ihre Maßeinheiten. Die Bauleute hatten
offensichtlich einen Entwurf vor den Augen, denn ihre Bauten waren schön,
wohlproportioniert und präzise. Ohne Entwürfe und Berechnungen lassen
sich solche Gebäude nicht aufführen.
Nicht wenig
Spuren altertümlicher Gebäude fanden die Archäologen im Becken
der Wolga (Idel), im Ural, Altai, in Kasachstan und Dagestan, am Don, in der
Ukraine und in Mitteleuropa.
Gut erhalten sind
in der Steppe auch andere Denkmäler der Großen Turkischen Wanderung.
Manchmal sind sie überraschend, eigentlich gar keine richtigen
Denkmäler, vielmehr einfach am Wege liegende Steine. Jeder davon zeigt
einen eingemeißelten Hirschen. Deshalb nennen die Archäologen sie
Elen-Steine.
Der Rothirsch
(vgl. das russ. olen, Hirsch bzw.
Elen) war ein weiteres Zeichen Tengris und folglich ein Zeichen der turkischen
religiösen Kultur. Dieses Zeichen bestand beim Turkvolk lange vor dem
Aufkommen des Kreuzes.
„Gehst du nach
rechts, siehst du einen Palast, gehst du nach links, findest du nichts“: Das
sind nicht Worte aus einem Märchen, sondern sie waren auf einem am Wege
liegenden Stein entdeckt. Sie geben eine Auskunft, wenn auch eine, die nicht
jedermann zu lesen verstand. Nur eben einer, der zum Turkvolk gehörte.
Einer, der die Runenschrift kannte, ebenso wie die gute turkische Tradition,
Reisenden zu helfen.
Nach rechts, nach
links, gerade heraus, zurück – das waren geheime Orientierungsanweisungen.
Nach rechts bedeutete südwärts, nach links nordwärts, gerade
heraus ostwärts. Ein Reisender, der diese Wegzeichen las, wusste, was ihm
bevorstand, und bereitete sich darauf vor.
Auf großen
runden Steinen oder an Felsen, die hie und da über die Steppe verstreut
lagen, wurden ganze Botschaften hinterlassen, sogar eingemeißelte
Verszeilen. All das war ebenfalls eine alte altaische Tradition, und sie hatte
sich in der Steppe für Jahrhunderte eingebürgert.
Über ihre
Große Übersiedlung in die Steppe schufen die Angehörigen des
Turkvolkes Dichtungen und Sagen. Etwas selbst von den Zeitgenossen jener fernen
Zeiten Geschaffenes hat sich erhalten. Beispielsweise die alte Sage „Aktasch“;
sie wird heutzutage unterschiedlich erzählt, aber die Hauptsache ist
geblieben.
Freilich
behaupten die Baschkiren, Khan Aktasch sei ein Baschkire gewesen. Die Tataren
nennen ihn einen Tataren, die Kumyken halten ihn für einen Kumyken usw. In
Dagestan gibt es den Fluss Aktasch; an seinem Steilufer liegen die Ruinen einer
altertümlichen Stadt, die der Sage nach vom berühmten Khan als seine
Hauptstadt gegründet wurde. Wem soll man nun glauben: den Tataren, den
Kumyken oder den Baschkiren?
Am besten allen
auf einmal. Und zwar aus folgendem Grunde.
Khan Aktasch
gründete am Idel ein Land, das offenbar schon damals Descht-i-Kiptschak hieß. Die heutigen Kumyken, Baschkiren und
Tataren waren sämtlich Kiptschak, also ein einheitliches Volk. Nichts
trennte sie voneinander wie jetzt, sie hatten damals einen einzigen Herrscher,
gehörten zu ein und demselben Khanat. Leider haben die Brüder ihre
Verwandtschaft vergessen, daher rührt ihr Streit.
Unter Khan
Aktasch, d. h. im 3. Jahrhundert, bildete sich ein neues großes
turkisches Khanat heraus. Es wurde durch die Große Völkerwanderung
hervorgebracht, war eines ihrer Ergebnisse. Die Erschließung der neuen
Regionen konnte nur diesen Abschluss finden: die Gründung eines neuen
Staates. Jedes Land muss aber bekanntlich seine Grenzen, seinen Herrscher und
seinen Namen haben.
Descht-i-Kiptschak
ist ein Name von sehr tiefem Sinn. Heute wird er als „Steppe der Kiptschak“ (d.
h. des Teils des Turkvolkes, der in die Steppe ausgewandert war)
übersetzt. Aber eine solche Übersetzung erklärt herzlich wenig,
fügt sich nicht in die traditionelle turkische Kultur ein. Was stört,
ist das Wort „Descht“ oder „Dascht“, es ist gleichsam überflüssig.
Zudem bedeutete dieses turksprachige Wort im Altertum immerhin „Fremde“ und
nicht „Steppe“.
Konnten die
Steppenbewohner ihre Heimat als „die Fremde der Kiptschak“ bezeichnen? Aber
niemals!
Des Rätsels
Lösung liegt in dem kaum merklichen „i“
in der Mitte des Namens. Der Buchstabe ist wie ein vergessener Nachhall des
Altertums und hatte einst die Form „issitep“, was in der Turksprache „die, die
Wärme gegeben hat“ bedeutete. Die Übersetzung lautet also: „die
Fremde, die den Kiptschak Wärme gegeben hat“. Dann wird alles klar. (In
der Turksprache wird der Satz heute zwar anders gebaut, aber am Sinn
ändert das nichts.)
Descht-i-Kiptschak
– nur so konnte das Turkvolk, das in die Steppe ausgezogen war, seine neue
Heimat nennen. Die gestrigen Bergbewohner hatten ein neues Heim gewonnen, und
es hat ihnen „Wärme gegeben“.
Für einen
Steppenbewohner gab es nun kein Wort, das ihnen das Herz mehr erwärmt
hätte als das Wort „issitep“. Das war die Heimat, das wärmste Land der
Erde. „Unsere Wiege ist der Altai, unsere Heimat die Steppe“, sagten die
Kiptschak.
Übrigens
sind auch andere Auslegungen des Wortes Descht-i-Kiptschak nicht
ausgeschlossen. Einigen Menschen mögen sie genauer scheinen. Wenn man z.
B. das turksprachige Wort „tasch“ („dasch“) – soviel wie Stein, Felsen,
Anhöhe – als Grundlage nimmt, so entsteht das Wort „taschta“ („daschta“),
also der „Aufenthaltsort“. Auch darin wird die Erklärung gesucht.
Außerdem gibt es noch eine iranische Version, die ebenfalls ihre Anhänger
hat.
Aber ob so oder
so – das alte Wort der Turksprache „issitep“ bleibt dem Herzen eines
Steppenbewohners doch vertrauter.
Am Idel
Khan Aktasch
legte am Idel Städte, Stanizas, Gehöfte an und stellte Vorposten auf.
Er war ein höchst tätiger Herrscher. Der Umstand aber, dass die
Tataren, Baschkiren und Kumyken ihn den ihrigen nennen und von ihm
unterschiedlich erzählen, zeugt leider von der Vergesslichkeit der
Menschen.
Aktasch ist ein
Held des Turkvolkes, am wahrscheinlichsten sogar eine Sammelgestalt, eine Figur
als Verkörperung eines Volkes, das unglaubliche Schwierigkeiten
überwunden hatte. Im Ural und Kaukasus hinterließ er Spuren seiner
Leistungen: ein neues Khanat mit einem einheitlichen Volk.
Die
Angehörigen des Turkvolkes führten ihre weißen Rosse entlang
des Idel, nord- oder auch südwärts, wohin sie eben wünschten.
Schon im 3. Jahrhundert wurden ihre ersten Städte am großen Strom
angelegt. Diese Städte sind nicht vergessen, sie leben fort: zum Beispiel
Sumeru (Samara) als Andenken an den heiligen Altaiberg Utsch-Sumer. Vielleicht
war an diesem Ort etwas, was an den Berg erinnerte – ein anderer Berg oder
vielleicht Pflanzen oder sonst etwas. Die turkischen Benennungen waren nie
zufällig.
Neben dem Grab
eines heiligen Menschen entstand die Stadt Simbir („einsames Grab“),
später Simbirsk; auf einem sandigen Berg die Stadt Sarytau, „Gelber Berg“,
heute Saratow. Und natürlich gab es schon damals die Stadt Bulgar, in der
Angehörige des Turkvolkes und anderer Völker lebten. Die Stadt hatte
eine gemischte Bevölkerung, das erhellt aus ihrem Namen.
Auch an den
Idel-Nebenflüssen – an der Kama, der Oka, des Agidel – entstanden
Städte. Im Ural waren das Tscheljaba (heute Tscheljabinsk), Tagil, Kurgan
und andere. Das sind sämtlich turksprachige Namen, und ein jeder hat
seinen Sinn.
Allerdings
ließen die Kiptschak fremde Lande in Ruhe. Die Udmurten, Mari, Mordwinen,
Komi, Permjaken und andere Völker des heutigen Wolgagebiets und der
Uralregion blieben immer ihre guten Nachbarn. Im Grunde sind sie ja
Brudervölker und haben gemeinsame Altaier Wurzeln.
Am Idel fanden
die Reiter von Khan Aktasch Ansiedlungen der Skythen vor, jener
Angehörigen des Turkvolkes, die einst aus dem Altai ausgewandert waren.
Heute werden diese Menschen Tschuwaschen genannt. Sie hatten sich den
altertümlichen Glauben des Turkvolkes bewahrt, erkannten jedoch auch schon
Tengri an, den sie Tura nannten.
Die Tschuwaschen
sind ein richtiges Museumsvolk, ein geheimnisvoller Schatz der turkischen Welt,
der geduldig darauf wartet, erkannt zu werden.
Gewiss kam es am
Idel auch zu blutigen Zusammenstößen, ohne Kriege ging es auch hier
nicht ab. Die Reiter mussten beispielsweise ihre Säbel
entblößen, als ihnen die Alanen in den Weg traten: ein sehr starkes
und kriegerisches Volk, vor dem selbst die römischen Legionäre
gewichen waren.
Die Alanen
schnitten dem Turkvolk den Weg zum Donufer ab.
Khan Aktasch
kehrte zum Idel zurück, ohne neue Lande gewonnen zu haben. An seiner
Mündung legte er die Stadt Seminder, die künftige Hauptstadt des
Chasarischen Khanats, an. Dadurch legte er fest, dass der Idel ein Strom des
Turkvolkes sei.
Aber die
Erschließung der Steppe verlangsamte sich damals. Ohne ein gutes Heer war
es gefährlich, hier zu bleiben. Europa zeigte eine unverhohlen feindselige
Haltung. Das Turkvolk wollte unbedingt im Kaukasus Fuß fassen, denn Berge
sind eine naturgegebene Festung, zuverlässiger als alle anderen Festungen.
Sonst hätten sie den Idel verloren.
Khan Aktasch
kämpfte sich zum Kaukasus durch.
Am Ufer eines
Gebirgsflusses legte er eine Stadt an. Im Grunde war das die erste turkische
Stadt in Nordkaukasien und ganz Europa. Heute sind an ihrer Stelle nur Kurgane
zu sehen. Hie und da kann man Überreste von Ziegelmauern und
Erdwällen bemerken. In der Nähe fließt der Aktasch, dahinter
liegt die Kumyken-Siedlung Endirej. Die Kumyken achten die Siedlung wegen ihrer
altertümlichen Herkunft ganz besonders.
Von hier aus, in
dieser nun vergessenen Stadt begann der Weg der Großen Südwanderung,
sie sollte jedoch nur kurz sein. An den Mauern von Derbent blieb die Reiterei
hoffnungslos stecken. Der Weg weiter war versperrt.
Die Stadt Derbent
galt als ein zuverlässiger Vorposten der westlichen Welt und stand, einer
uneinnehmbaren Festung gleich, auf einem Berggipfel. Von der Festung bis zum
Meer zog sich eine hohe Steinmauer, sie versperrte den Weg nach dem Iran und
ins Römische Reich ganz und gar. Die Mauer war sehr hoch und so breit,
dass man sie wie eine richtige Straße mit einer Araba (zweirädriger
hölzerner Bauernwagen) befahren konnte.
Die Stadt lebte
von dieser Mauer oder vielmehr von ihren berühmten Toren: Diese wurden
Handelskarawanen geöffnet, allerdings gegen Geld oder Waren.
Vor den
einfallenden turkischen Truppen wurden die Tore dicht verschlossen. Hier, im
Kaukasusvorland, blieb die Große Völkerwanderung stehen: Rechts
ragten Berge empor, links lag die See. Vorne war eine Sackgasse. Es führte
kein Weg weiter.
Inzwischen lebte
man schon in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts. In der turkischen
Welt brachen Jahre der Stille und Ruhe an.
Im Kaukasus
Das Land, das
hinter den Toren von Derbent lag, zog die Kiptschak an. Schon deshalb, weil sie
nicht wussten, was dort zu erwarten war. Für den Steppen-Osten handelte es
sich um ein Land mit einer anderen Kultur. Selbstverständlich hatten sie
auch schon früher von Europa und dem Römischen Reich gehört,
aber gesehen hatten sie sie nicht.
Als sie sich in
einer Sackgasse sahen, verließen sie sich auf den Himmel.
Descht-i-Kiptschak
lebte im alten Rhythmus: Da wurde gebaut, Eisen geschmolzen, Getreide geerntet
und Vieh geweidet. Die Menschen feierten ihre Feste und Hochzeiten, freuten
sich über Neugeborene und trauerten um Verstorbene. Alles war nach wie
vor, das Leben ging seinen gemessenen Gang weiter.
Im Kaukasus
entstanden turkische Siedlungen und neue Städte. Eine davon war Chamrin.
Die Stadt wurde durch ihren heiligen Baum berühmt, den beinahe alle
Historiker des Kaukasus erwähnen. Der Baum hatte den Namen „Khan Tengri“.
Es handelte sich
natürlich nicht einfach um einen heiligen Baum, wie sie von Heiden verehrt
wurden. Nein, im Turkvolk lebte die Sage vom Weltbaum, in dem sich alles vom Großen Tengri Erschaffene
vereinigt. (In diesem Fall sollte man Tengri als „Chodai“ – Erschaffer,
Erzeuger – anrufen.)
Die Lehre vom
Weltbaum war eine ganze Wissenschaft, und wer sie bewältigte, wurde zu
einem Weisen. Ein Weiser durchschaut den Aufbau der Welt und erkennt, worauf
sie sich gründet. In Europa nannte man diese Wissenschaft Philosophie.
Die Zweige des
Weltbaums erreichen den Himmel, sie gehören Gott und den Vögeln.
Seine Wurzeln reichen tief bis in die Unterwelt, ins Reich der Schlange,
hinein. Der Stamm aber befindet sich in der Mittelwelt, dort, wo Menschen,
Pferde und andere Tiere wohnen.
Der Baum des
Lebens ist ewig wie Gott selbst und ebenso unsichtbar.
Der Sage nach
gehen Geister und Gedanken über den Baum des Lebens von der einen Welt in
die andere über. Gerade der Weltbaum gibt dem Menschen die Erkenntnis. War
Chamrin eine Stadt von Weisen und Philosophen? Baten die Kiptschak vielleicht
hier, unter der Krone des Weltbaums, Tengri um Rat und Hilfe? Lebten sie doch
in einer feindlichen Umgebung.
Später
wurden in Chamrin Kirchen und noch später Moscheen gebaut. Aber der Baum
blieb das größte Heiligtum der Stadt. Heute besteht dort Kajakent,
eine Siedlung, die eine strenge Stadtplanung besitzt. An ihrem Rand wächst
als Mahnung an die Vergangenheit der heilige Baum „Tengri Khan“. Gewisse Dinge
haben die Kumyken natürlich vergessen, vieles wissen sie vom Baum des
Lebens nicht mehr. Trotzdem verehren sie den Baum in der Siedlung Kajakent nach
wie vor.
Den Baum ihrer
künftigen Erinnerungen?
Damals aber, im
3. Jahrhundert, kündigten sich große Ereignisse an. Sie begannen
jenseits der Mauern von Derbent und vollzogen sich zuerst ohne Beteiligung der
Kiptschak. Dabei war es gerade diesen beschieden, ihre Hauptteilnehmer und ihre
Haupttriebkraft zu werden.
„Was Tengri
vorgeschrieben hat, ist nicht zu vermeiden“, lehrt eine alte Weisheit.
Es ist
unglaublich, aber Fakt: Die Tore von Derbent öffneten sich von selbst!
Ohne Dazutun der Steppenbewohner. Bekanntlich kommen reine Gedanken vom Himmel,
und ihre Wirkung bleibt nicht aus. Davon überzeugt die weitere Geschichte
des Kaukasus und ganz Europas.
Von der
Einwanderung der Kiptschak erfuhren die Armenier, die im fernen Transkaukasien
einen hoffnungslosen Krieg gegen den Iran führten. Sie benötigten
einen starken Verbündeten, und so fanden sie den Weg nach Chamrin. Als
Erste in Europa erkannten sie das Turkvolk an und taten alles, damit Derbent
die Reiter einließ.
Der armenische
Herrscher Chosroi I. hatte sich in der Wahl seines Verbündeten nicht
geirrt. Die Kiptschak versetzten den Gegner in Schrecken und schlugen ihn aufs
Haupt. Damit war der Krieg zu Ende. Armenien warf die Macht des Iran ab, und
die Kiptschak unterwarfen sich Derbent und das ganze westliche
Küstengebiet am Kaspischen Meer.
Das heutige
Aserbaidschan weist viele Anzeichen jener ruhmreichen Zeit auf, zum Beispiel
die Siedlung Kyptschak oder die Stadt Gjandsha. Selbst in einigen wenig
bekannten Siedlungen und Städten gibt es Denkmäler aus der Epoche der
Großen Völkerwanderung. Man sollte sich die Stadt Gussary genauer
ansehen; das ist ihr heutiger Name, aber abgeleitet ist er offenbar vom Namen
Gesser. Damals, im 3. Jahrhundert, zog die turkische Welt vollberechtigt in den
Kaukasus ein. Hier schlug sie Wurzeln und wurde für immer ein Teil der
Kultur des Kaukasus und ganz Europas. Hier sind also die unglaublichsten
Entdeckungen möglich.
Der Einzug des
Turkvolkes in den Kaukasus war ein außerordentliches Ereignis in der
Weltgeschichte. Darin vereinigten sich die Stärke der Reiter (einer neuen
Armee, über die sich niemand mehr hinwegsetzen konnte) und die Zukunft der
Großen Völkerwanderung, ihre sich abzeichnenden Perspektiven (am
Horizont der Kiptschak zeigten sich Europa, der Nahe und der Mittlere Orient).
Alles verflocht
sich damals im Kaukasus zu einem dichten politischen Knäuel, alles wartete
auf seine Fortsetzung. Die Zeit war gespannt wie eine Feder, die bereit war,
globale historische Ereignisse auszulösen. Die Welt war bereit, anders zu
werden.
Gerade der
Einfall des Turkvolkes in Europa zog dort einen Strich unter die Epoche der
Antike und leitete die Epoche des Mittelalters ein. Ein neues Europa – eines
bereits unter Beteiligung des Turkvolkes – nahm seinen Anfang. Der Kontinent
erlebte gleichsam den Übergang von Kindheit zu Jugend. Leider haben die
Historiker dieses überaus wichtige Ereignis übersehen.
Der Kaukasus
spielte natürlich auch früher eine besondere Rolle in der
Weltpolitik, bildete er doch die Grenze zwischen Ost und West, die Grenze
zwischen zwei Welten! Lange prallten hier die Interessen des Iran mit denen des
Römischen Reiches zusammen, und jahrhundertelang wurden hier blutige
Kriege geführt.
Außerdem
war der Kaukasus beinahe der einzige Ort in der westlichen Welt, an dem man
Eisen zu schmieden verstand. Jenes Eisen, das mehr als Gold geschätzt
wurde. (Freilich wurde hier Eisen nicht geschmolzen, es war daher von niedriger
Qualität; etwas Ähnliches stellten die Kelten in den Karpaten her.)
Trotzdem wurde um den Besitz von Eisen ein Kampf auf Leben und Tod
geführt. Ohne das kaukasische Metall wäre das Römische Reich
für immer in der Bronzezeit stecken geblieben. Denn die Römer kannten
den Eisenguss nicht. Deshalb waren selbst die Panzer ihrer Legionäre aus
Bronze. Der Iran dagegen benutzte kaukasisches Eisen.
Als das Turkvolk
in Transkaukasien die iranische Armee zerschlagen hatte, veränderte sich
alles auf die überraschendste Weise. Die Weltpolitik, die sich im Laufe
von Jahrhunderten herausgebildet hatte, brach an einem Tag zusammen, und zwar
ohne viel Lärm und Krach. Das verstanden jedoch nur vielerfahrene und
hochgebildete Menschen.
Unter den
Kiptschak fanden sich solche Menschen nicht. Sie wussten nicht viel von Dingen,
die in Europa geschahen. Sie verließen Transkaukasien, ohne die
Früchte ihres Sieges genossen zu haben, sie überließen sie
vielmehr den anderen. Nachdem sie den Armeniern geholfen hatten, zogen sie
weiter, die Kaspi-Küste zu erschließen.
Nach
Transkaukasien aber, ins „Niemandsland“, eilte der römische Kaiser
Diokletian, ein überaus schlauer und weiser Politiker jener Zeit. Europa
war schon unter seiner Macht, und nun glaubte er, zum Herrn über die ganze
Welt aufsteigen zu können.
Im Jahre 297
unterwarf sich Diokletian ganz Transkaukasien. Dann überfiel er den
geschwächten Iran und eroberte seine reichsten Provinzen. Der Feldzug war
stürmisch und siegreich. Rom jubelte. Man sprach schon von einem neuen
„Goldenen Zeitalter“ des Reiches. Einen solchen Erfolg hatte niemand erwartet,
nicht einmal der Kaiser selbst.
Aber der Sieg war
viel zu leicht, verdächtig leicht errungen. Das machte Diokletian
argwöhnisch. Er allein ahnte, dass jener Sieg über die Perser in ein
Unglück umschlagen konnte. Der Aufstand, der dann in Armenien ausbrach,
war nur ein fernes Wetterleuchten jenes Unglücks, das unabwendbar
über das Reich heraufzog.
Der Aufstand in
Armenien wurde natürlich niedergeschlagen. Die Anführer, die
Christen, kamen ins Gefängnis. Doch konnte das nichts mehr ändern.
Die Armenier waren wie gegen jedes Missgeschick gefeit. Sie warteten auf ein
sehr wichtiges Ereignis, das jeden Augenblick eintreten musste. Sie warteten
auf ein Wunder, das der Christ Grigorij vorausgesagt hatte.
Grigorij hatte
nämlich am Himmel eine Feuersäule mit einem sie krönenden Kreuz
gesehen. Das Kreuz strahlte ein Licht aus, so grell wie das eines Blitzes.
Damals glaubten
die Armenier noch nicht an die rettende Kraft des Kreuzes, sie waren Heiden.
Dafür aber blieben ihnen allen die Kreuzfahnen im Gedächtnis, unter
denen die Kiptschak gekämpft hatten. Deshalb machte es einen tiefen
Eindruck auf sie, als Grigorij ein ebensolches Kreuz am Himmel sah – das wies
auf ein göttliches Vorzeichen hin.
„Dem Turkvolk
hilft ihr Gott des Himmels“, sagten sie.
Die Kunde vom
allmächtigen Gott des Turkvolkes durcheilte Europa. Sie wurde von Christen
verbreitet, die die prophetischen Worte Jesu Christi über Reiter
wiederholten, welche die Welt von der Herrschaft Roms erlösen sollten.
Diese Prophetie stand in der Apokalypse, einem der Hauptbücher der
Christen, geschrieben. Man lebte in Gedanken an sie. Die Menschen lasen in der
Offenbarung immer wieder und verglichen jede Zeile des Buches mit dem, was um
sie geschah. Alles stimmte. Alles war genau so, wie Jener gesagt hatte, den man
Christus genannt hatte.
„Die Prophetie
ist eingetroffen. Wartet“, sagte Grigorij allen, nachdem er das leuchtende
Tengri-Kreuz am Himmel gesehen hatte. Waren es vielleicht diese Worte, dank
denen die Armenier ihn später zu ihrem Aufklärer erhoben?
Der Sieg war
nahe, er musste von selbst kommen.
Natürlich
hatten die Kiptschak von dem, was sich in Europa zutrug, keine Ahnung. Sie
wussten absolut nichts, bis ein junger armenischer Geistlicher zu ihnen kam. Er
hieß Grigoris und war ein Enkel Grigorijs des Aufklärers. Der Junge
war kaum sechzehn Jahre alt. Demütig verneigte er sich und bat in
gebrochener Turksprache um die Erlaubnis, den Herrscher der Kiptschak zu
sprechen.
Es hieß ja
nicht von ungefähr: „Was Tengri vorgeschrieben hat, ist nicht zu
vermeiden!“
Das Turkvolk und das Christentum
Weshalb kam der
junge Bischof Grigoris? Was wollte er vom Khan? Auf jeden Fall ging es ihm
nicht um militärische Hilfe.
Diesmal baten die
Armenier, sie siegen zu lehren. Sie waren Heiden und Ungläubige, aber nun
wollten sie den Glauben an den Gott des Himmels annehmen, der das Turkvolk
unbesiegbar gemacht hatte. Der europäische Bischof Grigoris kam als erster
Europäer, um den Tengri-Glauben kennen zu lernen und dann sein Volk
aufzuklären. Im Grunde wollte er die Taten von Gesser und Khan Erke
fortsetzen, allerdings nun in Europa.
Es sei betont,
dass man in Europa von einem Gott des Himmels nicht einmal gehört hatte.
Die Juden beteten Idole (Theraphim) und heidnische Götter (Elohim) an. Die
Römer beteten zu Jupiter. Überall herrschten heidnische
Vielgötterei und unverhohlene Barbarei.
Die Christen
dagegen erkannten überhaupt keine Götter an. Sie lehnten sie ab und
nannten sich Atheisten. Sie warteten nur auf die Ankunft der Reiter, der
Abgesandten eines Boten des Gottes des Himmels. Und die Reiter kamen!
Das Auftauchen
der Kiptschak an der Grenze des Römischen Reiches und ihr glänzender
Sieg über den Iran wurden in erster Linie gerade von den Christen bemerkt.
Über die Einwanderer wurde viel gesprochen. Sie waren ja so ganz anders:
Ihre Waffen und ihr Rüstzeug aus Eisen machten die Kiptschak für die
Europäer zu Ankömmlingen aus einer anderen Welt. Und das stimmte
wirklich. Sie waren aus einer lichten Welt gekommen, die unter Tengris hohem
Himmel lebte.
Das heidnische
Europa blickte zu ihnen auf, wie ein Fußgänger zu einem Reiter
aufblickt. Europa blieb im Wichtigsten hinter den Kiptschak zurück:
Für Europa war der Gottesglaube ein unerreichbarer Wert. Der Glaube an
jenen Gott, der dem Turkvolk Eisen beschert hatte.
Um den Sinn
dieser Worte zu verstehen, genügt es, ein einziges einfaches Beispiel
anzuführen. Ein guter Schlag mit einem Eisensäbel durchhieb einen
Bronzeschild ohne weiteres. Anders gesagt: Die berühmten römischen
Truppen waren, gleich Wilden mit Keulen, den Kiptschak gegenüber wehrlos.
Über den
Zusammenbruch des Römischen Reiches mag Verschiedenes und auf verschiedene
Weise gesagt, mögen beliebige Hypothesen auf- und Vermutungen angestellt
werden, doch ohne die Berücksichtigung dieser einfachen Tatsache
wären sie nicht mehr stichhaltig.
Der turkische
Tengri verkörperte Eisen, der römische Jupiter aber nur Bronze. Die
Siege der Kiptschak waren unabwendbar wie der Sieg von Eisen über Bronze.
Das Römische Reich war dem Untergang geweiht, sein Schicksal hing nur noch
von der Zeit und vom Willen der Kiptschak ab.
Es war offenbar
kein Zufall, dass die Armenier den Bischof Grigoris zu den Kiptschak
entsandten. Sie waren womöglich die Ersten in Europa, die den Verlauf der
künftigen Entwicklung erraten hatten. Und so distanzierten sie sich rasch
von dem noch lebenden, aber schon in den letzten Zügen liegenden Rom.
Deshalb traf der
junge armenische Bischof in Derbent ein. Er ließ sich taufen („ary-sili“
oder „ary-alkyn“ in der Turksprache). Man tauchte ihn dreimal ins Wasser, das
mit einem Silberkreuz geweiht worden war.
Die Taufe ist
einer der wichtigsten Riten des Tengri-Glaubens, das Einweihen in den Glauben.
Anders gesagt, die Einführung in die turkische Welt. Das ist ein Ritus aus
dem Altai, weil im Alten Altai Neugeborene in eiskaltes Wasser getaucht worden
waren. Nach einem solchen Bad trat ein Mensch in die Welt des Ewigen Blauen
Himmels. (Daher rührt letzten Endes das Wort „Turk-“, was selbst im
Chinesischen soviel wie „gesund“, „stark“ bedeutete.)
In der alten
Turksprache hatte es außerdem das Wort „aryg“ gegeben. Es bedeutete
„rein“ im geistlichen Sinne. Als „rein“ galt ein Mensch, der den heiligen Ritus
der Reinigung hatte über sich ergehen lassen.
Die Wassertaufe
kam im Altai auf, bei einem Volk, das Wert auf seine körperliche und geistige
Reinheit legte. Heute wird sie bald den Christen, bald anderen zugeschrieben,
aber diese Ansicht ist völlig irrig. Die frühen Christen hatten keine
Taufe, konnten sie nicht haben. In Europa erfuhr man von ihr erst nach dem
Einzug der Kiptschak. Das ist eine unbestreitbare Tatsache, die nicht einmal
von christlichen Historikern verschwiegen wird. Im 4. Jahrhundert ging man dort
daran, Baptisterien zu bauen: Becken, in denen die Menschen die christliche
Taufe empfingen.
Mehr noch, in
Tibet, wo sich die Traditionen des Tengri-Glaubens erhalten haben, bestehen
nach wie vor die Riten Ary-alkyn und Ary-sili.
Folglich war der
armenische Bischof der erste Europäer, der in den Tengri-Glauben
eingeweiht wurde. So brachten die Kiptschak offenen Herzens ihre Einstellung
zum Bündnis mit dem Westen zum Ausdruck. Bekannt ist sogar der See, in dem
Grigoris getauft wurde. Er liegt unweit der Siedlung Kajakent und heißt
Adshi, d. h. „der See des Kreuzes“.
Den geistig
gereinigten Grigoris geleiteten turkische Geistliche nach Chamrin und weihten
ihn dort ins Geheimnis des Weltbaumes ein. Er sah die heiligen turkischen
Texte: die Gebote Tengris, die später, nach einigen Fragmenten zu
urteilen, in den Koran aufgenommen wurden. Erst dann, nach der Einweihung,
erlaubte man es ihm, zwei Finger – den Daumen und den Ringfinger – der rechten
Hand auf eine bestimmte Weise zusammenzulegen. Das war das göttliche
Zeichen des Seelenfriedens.
Mit diesen beiden
zusammengelegten Fingern zeigte man im Orient dem Himmel seine Ergebenheit. Man
berührte mit der Hand die Stirn, die Brust, die linke und dann die rechte
Schulter. Mit dieser Bewegung baten die Angehörigen des Turkvolkes den
Gott des Himmels um Schutz und Geborgenheit. (Der erste Christ, der sich
bekreuzigte, war somit ebenfalls der Bischof Grigoris.)
Die Christen
kannten nicht die Bekreuzigung, wie sie die Potenz des Kreuzes nicht kannten.
Auch das übernahmen sie von den Kiptschak.
Grigoris
erzählte ihnen von Christo, den er verehrte, von Europa und der
Christenverfolgung. Und die Kiptschak glaubten ihm und nahmen an, Christus sei
ein Sohn des Gottes des Himmels. Denn sie kannten auch andere Söhne von
Tengri, namentlich den Propheten des Turkvolkes Gesser. Ihm galt ein Gebet, das
sich durch seinen lakonischen Charakter und die ungewöhnliche
Treffsicherheit des Ausdrucks auszeichnet.
„Wir haben dir
Gesser gegeben, so bete zu Gott“, hieß es in Tengris Geboten. (Heute
lassen sie sich in der 108. Sure des Korans wieder finden.) Sie bleiben im
Orient unvergessen, wenn sich auch dort nicht mehr alle an den Sinn des Wortes
„Gesser“ (Kaussar, Kewser) erinnern.
Lange lernte
Grigoris die Geheimnisse des Gottesdienstes. Man half ihm, in Derbent eine
christliche Kirche einzurichten. (Später wurde sie Albanische Kirche
genannt, nach dem Namen eines Landes, das sich im Kaukasus herausbildete,
nämlich Kaukasisch-Albaniens, und die Stadt Gesser war wohl eine seiner
Städte.)
Aber die erste
neue christliche Kirche Europas entstand in Armenien. Das geschah im Jahre 301.
Dort erkannte man Tengri und sein Kreuz an. Die Armenier übernahmen von
den Kiptschak das Ritual des Gottesdienstes. (Die Christen hatten nicht einmal
ihr eigenes Ritual gehabt und nach den Regeln des judäischen Glaubens, in
einer Synagoge gebeten.)
Die Armenier
gaben als Erste die alten Regeln auf. Das löste in Rom Entrüstung
aus, und Kaiser Diokletian begann mit der Christenverfolgung.
Aber die
Verfolgungen, Hinrichtungen und Verbannungen flößten keine Angst
mehr ein. Die Zahl der Anhänger des neuen Glaubens stieg nur noch. Die
Samen der turkischen geistlichen Kultur gingen selbst auf dem steinigen Boden
des heidnischen Rom auf. Denn niemand auf Erden ist so stark wie der Gott des
Himmels.
Die Völker
des Römischen Reiches sprachen furchtlos von der Ohnmacht der alten
Götter. Alle wandten sich offen von Jupiter ab, zerstörten die
Skulpturen Merkurs und die Darstellungen von Idolen.
„Was Tengri
vorgeschrieben hat, ist nicht zu vermeiden!“
Endlich begriff
man das auch in Rom. Kaiser Diokletian äußerte sogar den Wunsch, das
neue Christentum anzunehmen, bekam aber dann Angst. In seiner Verzweiflung gab
er seinen Thron auf und verließ den Palast. Mit einem Mal sah der weise
Politiker, dass er gegen das Turkvolk verloren hatte.
Und das, ohne
auch nur einen Kampf mit ihnen ausgefochten zu haben!
In eben jenem
Augenblick brach das einheitliche Römische Reich zusammen. Ohne Kriege
noch Katastrophen. Das Reich hatte den Glauben an sich verloren, und das ist
die größte Sünde auf der Welt.
Das Kreuz über Europas Kirchen
Armenien,
Kaukasisch-Albanien, dann Iberien (heutiges Georgien), Syrien und Ägypten
luden die Kiptschak um die Wette ein: Die Große Völkerwanderung fand
hier ihre Fortsetzung. Richtiger wäre sie in dieser Phase schon
Große Kulturwanderung zu nennen.
In all diesen
Ländern wurde das Tengri-Kreuz und mit ihm auch die geistliche turkische
Kultur anerkannt. Das neue Christentum (nach turkischem Muster!) gab ihnen
volle Freiheit von der Macht Roms.
Für diese
Länder begründeten die Kiptschak in Derbent den Patriarchenstuhl. Das
war eine Art geistliche Schule für den Westen und somit ein Markstein. Man
kam hierher (wie einst nach dem Altai oder ins Kuschanreich), um Erfahrungen zu
übernehmen. Hier lernten die ersten christlichen Geistlichen, sie erfuhren
von den Riten und Regeln des Gottesdienstes und wurden in die
Glaubensgeheimnisse eingeweiht; auch Prediger wurden hier ausgebildet.
Wie sonst
hätten die Europäer vom Gott des Himmels erfahren können? Der
Kaukasus blieb noch lange Europas Aufklärungszentrum.
In Derbent wurde
die erste christliche Kirche der Welt gebaut. Sie glich den turkischen Tempeln
insofern, als die Gläubigen auch die Kirche nicht betreten durften.
Tausende Menschen aus den ehemaligen römischen Kolonien strebten dieser
geistlichen Quelle zu.
Das Gebäude
jener Kirche hat sich erhalten. Die Archäologen haben es bei den
Ausgrabungen einer Festung völlig zufällig entdeckt. Niemand war hier
auf einen so wertvollen Fund gefasst. Zuerst begriff man nicht, was da zu Tage
kam, und glaubte, das sei ein Getreidespeicher. Erst nach der Freilegung des
Raums wurde klar, dass es sich um eine altertümliche Kirche handelte. Sie
war ganz, bis zur Kuppel, in der Erde eingesunken. Aber nach so vielen
Jahrhunderten hat Gott es trotzdem bewahrt.
Die turkischen
Tempel bildeten im Grundriss ein gleichseitiges Kreuz. Die Kirche in Derbent
zeigt ebendiese Bauweise. Sie ist nicht groß, hat Ziegelmauern und
unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von den Tempeln der
Steppenbewohner.
Genau solche
Kirchen kamen auch in Armenien, Iberien und bei den anderen Verbündeten
der Steppenbewohner auf. Von ihrer turkischen Herkunft zeugen auch Zeichen, die
die Erbauer in die Mauern der Tempel einmeißelten. Lange zerbrachen sich
die Wissenschaftler den Kopf darüber, was das für Zeichen sind.
Letztendlich
erwies sich, dass alles recht einfach war. Es handelte sich um Tamgas, eine Art
Wappen, die alle turkischen Geschlechter (Tuchums) besaßen. (Die Tamgas
bildeten übrigens den Beginn der europäischen Heraldik, dieser
ausdrucksvollen Wissenschaft, die sich mit Wappen, anderen Symbolen und
Genealogie befasst.)
Die Inschriften
an den Mauern der alten Tempel, die jahrhundertelang stumm gewesen waren, gaben
ihr Schweigen auf, als ihre Herkunft festgestellt wurde.
In Armenien z. B.
fanden die Wissenschaftler folgende Inschrift: „Nimm diese Gabe an die
Mönchsgemeinschaft an.“ Daneben standen die Anfangsbuchstaben der Namen
von Donatoren. Diese in der altertümlichen Turksprache
eingemeißelten Worte sind beinahe 1700 Jahre alt.
Solche Gaben
erhielt das armenische Volk von den Kiptschak anlässlich der Annahme des
neuen Glaubens. Ein kurzer, aber höchst inhaltsreicher Satz, er
kündet von einem ganzen Kapitel in der Geschichte der Völker.
In einer anderen
Kirche (neben der Kapelle Watschagans III.) schnitt die Hand des
altertümlichen Meisters einen Reiter in der Kleidung eines Geistlichen
aus. Er sitzt wie ein Angehöriger des Turkvolkes im Sattel, seine
Füße hängen frei, ohne Steigbügel.
Ein weiteres
Rätsel der Geschichte? Mitnichten.
Nur auf diese
Weise reisten die Geistlichen in der Steppe. Steigbügel kamen ihnen nicht
zu, sie waren Zubehör eines Kriegers.
… Es war ein
feierlicher Tag in Armenien, als sich am 10. November des Jahres 326 das
Tengri-Kreuz über den ersten Kirchen Europas erhob. Das armenische Volk
hat sich seinen Glauben und sein erlösendes Kreuz bis heute bewahrt.
Das Fest der
Kreuzerhöhung wurde in Armenien schon immer sehr feierlich begangen, denn
das war ein Wendepunkt in seiner Geschichte. Das Oberhaupt der Armenischen
Kirche Grigorij der Aufklärer wird zu Recht ein Gerechter Gottes genannt:
Er war es, der seinem Enkel und damit seinem Volk den Weg zum Turkvolk gewiesen
hatte.
Grigorij
verließ Derbent in einem Herrscherwagen und in Begleitung eines
Reiterzuges. Er führte das größte Heiligtum der turkischen Welt
mit sich: das gleichseitige Kreuz, das Zeichen eines neuen Europas.
Das Turkvolk
erwies dem Oberhaupt der Armenischen Kirche eine sehr hohe Ehre, indem es ihn
zu einem „Kathyliken“, d. h. einem „Verbündeten“ oder „Eingeweihten“,
erklärte. Seitdem, seit vielen Jahrhunderten heißt das Oberhaupt der
Armenischen Kirche der Katholikos aller Armenier (die griechische Endung „-os“
kam später hinzu).
Die christlichen
Gemeinden von Syrien, Ägypten und Byzanz knieten vor ihm, einem Gerechten
Gottes, dem ersten wahren Seelenhirten der christlichen Welt, nieder. Das
Ansehen Armeniens wuchs in jenen Jahren unaufhaltsam.
Dank den
Armeniern traten in der Kultur Europas und des Mittelmeergebietes viele
Veränderungen ein. Der Westen wurde der Schätze der turkischen Welt
teilhaftig. Seitdem strahlen unauslöschlich die Worte: „Aus dem Osten
kommt Licht.“ Sie haben einen sehr tiefen Sinn.
Wahrhaftig, Licht
kam aus dem Osten.
Vom Osten selbst
wusste Europa indes so gut wie nichts. Seine Kontakte mit der turkischen Welt
waren selten. Das nutzten die Römer aus, um die Kiptschak zu
Bösewichten, schrecklichen und wilden Barbaren zu stempeln, den Menschen
Angst vor ihnen einzujagen und so die eigene Herrschaft zu verlängern.
Leider gelang ihnen das in nicht geringem Maße.
Es lebte jedoch
ein einziger Europäer, der die Wahrheit vom Turkvolk und seiner Kultur
wusste, und das war Bischof Grigoris. Er lebte in Derbent, zelebrierte den
Gottesdienst im Namen des Gottes des Himmels und hatte alles mit eigenen Augen
gesehen. Man verglich den jungen Mann mit einem Propheten und seinen
aufrichtigen Dienst an der Kirche mit Gessers Großtaten. Auch die
Europäer setzten Grigoris den Propheten gleich.
Gerade das
missfiel den heimlichen Feinden des Gottes des Himmels, die sich in Rom
eingeschanzt hatten. Die römischen Herrscher hatten Angst vor der Wahrheit
von den Kiptschak, Angst vor ihrem Einfall in Europa. Und so griffen sie zu
ihrer Lieblingswaffe: zur Verleumdung. Sie brachten in Erfahrung, dass Grigoris
einem iranischen Adelsgeschlecht entstammte, und verbreiteten mit Hilfe von
Iranern Lügen über ihn. Man beschuldigte ihn einer schweren
Versündigung.
Ein tragischer
Tag. Grigoris wusste nicht, wie er sich rechtfertigen sollte. Alles war gegen
ihn. Und die Kiptschak lieferten ihn einem furchtbaren Tod aus. Er wurde in
Derbent, auf einem Stadtplatz, hingerichtet. Man band den jungen Mann an den
Schwanz eines wilden Pferdes, worauf die Richter das Urteil verkündeten.
Aber auch
angesichts des Todes bat er nicht um Gnade. Er schwieg, weil er nichts zu
bereuen hatte. Er sah nur zum Himmel und sagte leise: „Tengri salg-an namusdan
katschmas!“ (Was Tengri vorgeschieben hat, ist nicht zu vermeiden.)
Bestürzt,
begriffen die Richter nicht sofort, was geschehen war. Unterdessen raste das
Pferd bereits entlang der Meeresküste dahin und hatte sich bereits viel zu
weit entfernt.
Die Hinrichtung
wurde als Opfer ausgelegt. Und so betete man zu Tengri, die Seele des Helden
und unschuldigen Opfers möge die Kiptschak beschützen. Auch das war
eine altertümliche Tradition aus dem Altai: den Schutz bei einem Helden zu
suchen.
Seit jener Minute
erhielt Bischof Grigoris den turksprachigen Namen Dshargan („unerschrocken bis
zur Tollkühnheit“). Seinem Geist nach gehörte er nun zur turkischen
Welt, waren doch auch die Kiptschak unerschrocken bis zur Verwegenheit. Die
Steppenreiter nahmen ihn in ihre Gemeinde auf. Lange beteten sie darum, die
Seele Dshargans möge sich in einem neugeborenen Knaben des Turkvolkes
verkörpern und dessen Welt niemals verlassen.
(Bemerkt sei,
dass das Turkvolk dem Namenwechsel, ebenso wie der Seelenwanderung, schon im
tiefen Altertum viel Bedeutung beimaß: Der Namenwechsel bedeutete das
Ende des alten und den Beginn eines neuen Lebens.)
Dshargan wurde
mit vielen Ehren, als nationaler Held des Turkvolkes, begraben. Man beerdigte
ihn auf dem Gipfel des in der Umgebung von Derbent höchsten Berges und
baute am Grab eine kleine Kapelle. Am Hinrichtungsort wurde eine Kirche
aufgeführt.
Am neunten Tag
nach dem Begräbnis geschah ein Wunder. Neben dem Grab sprudelte
plötzlich eine Quelle hervor. Heilsames Wasser drang aus der Tiefe, auf
dem Gipfel des Berges, der früher nie Quellen gekannt hatte. Pilger
wanderten zum heiligen Grab, selbst solche aus fernen Landen.
Bald entstand
dort eine Siedlung, in der Wachen des heiligen Ortes lebten. Von Generation zu
Generation wahrten sie das Geheimnis dieses Ortes. Sie haben auch die Quelle
mit dem heilsamen Wasser erhalten, und nach wie vor kommen Menschen her.
Das Turkvolk und Byzanz
Verschiedene
Völker bewahren die Geschichte im Gedächtnis unterschiedlich. Am
häufigsten nahmen Ereignisse die Form von Sagen und Legenden, Dichtungen
und Bylinen an, die dann mündlich überliefert wurden.
Selbst wenn ein
Volk etwas vergaß, war es nicht das Wichtigste, es wusste um seine
frühere Geschichte, weil in seinem Gedächnits Informationen
fortlebten. Für die heutige Wissenschaft ist es durchaus möglich,
eine in einer Sage verborgene Information zu entschlüsseln.
Folglich ist die
Kultur neben allem anderen auch ein Gefäß des Gedächtnisses
eines Volkes. Ohne Kultur gibt es kein Volk, keine Vergangenheit. Sagen,
Legenden und Dichtungen entstanden nicht etwa aus Langerweile oder im
Müßiggang, vielmehr hatten sie einen tiefen Sinn. Durch eine
unsichtbare Verknotung war mit jeder Zeile ein Geheimnis verbunden.
Gerade das
zeichnet die turkischen Sagen aus: kunstvoll verschlungene Worte, bis ins
Kleinste durchdachte Gestalten und Bilder und unbedingt ein Geheimnis, genauer:
ein tiefer Sinn, der zwischen den Zeilen zu lesen war.
Das Turkvolk
bewahrte jeden seiner sagenhaften Helden wie eine teure Perle. Name, Kleidung,
Waffen – alles war von Sinn erfüllt, alles war absolut nicht
zufällig. Fahrende Sänger hatten Dutzende Sagen im Gedächtnis,
und wenn einer von ihnen den Namen einer Figur oder ein Detail der Erzählung
vergaß, hatte er kein Recht mehr, die Sage zu erzählen.
Die Geschichte,
die sich an den Mauern von Derbent abgespielt hatte, vergaß das Turkvolk
natürlich nicht. Die Aserbaidschaner, Kumyken und Tataren erzählen
sich bis heute noch, dass es eine Stadt im Osten gab, die die Riesenschlange
namens Adsharcha heimzusuchen pflegte. Sie ergriff Besitz von der Wasserquelle
und forderte junge Mädchen als Opfer. Doch die Tochter des Herrschers
wurde von einem Krieger gerettet. Er besiegte die Schlange nicht mit Waffen,
sondern mit Gebeten. Alle sahen: Das Wort, das er aussprach, war stärker
als ein Schwert, denn dieses Wort war „Bog“ (Gott).
Im Laufe der
Jahrhunderte erfuhr die Sage kleine Änderungen. Dieses oder jenes Detail
wurde abgewandelt, etwas auf eine andere Weise erzählt, der Krieger bekam
hin und wieder einen neuen Namen: Man nannte ihn Hysr oder Hysr-Iljas, Keder
oder Kederles, Dshirdshis. Doch immer blieb er der ewig junge Bewacher der
Quelle des Lebens.
Auch in Europa
war die Sage seit unvordenklichen Zeiten bekannt. Dort nannte man den Krieger
den heiligen Georgios (oder Georg, Jegori, Juri, Jiři – die Zahl der
Varianten geht in die Dutzende). Das darf eigentlich nicht wundernehmen.
Der heilige
Georgios, Hysr, Keder und Dshargan waren im Leben ein und dieselbe Person. Doch
wegen einiger (religiöser, politischer) Gründe wurde er in viele
Figuren gespalten, man machte mehrere Menschen aus ihm. Solche Beispiele sind
in der Geschichte der Völker keine Seltenheit, Politiker mischten sich oft
in die Kultur ein, und das ohne den geringsten Skrupel. Im Übrigen sind
auch gegenteilige Beispiele bekannt, da mehrere Menschen – ebenfalls zum Nutzen
von Politikern – in den Sagen zu einer Person „vereinigt“ wurden. Wie
beispielsweise Khan Aktasch.
Die turkische
Dshargan-Sage wurde in Rom nicht anerkannt. Anders konnte es auch nicht sein.
Die römischen Bischöfe hatten Angst, dass der Text der Legende das
tiefste Geheimnis der Westlichen Kirche preisgebe. Und so verboten sie es im
Jahre 494 den Christen, auch nur den Namen von Grigoris (Dshargan) zu
erwähnen. Der turkische Heilige wurde umgedeutet, aus einem Märtyrer
wurde ein Mörder: Man ließ ihn ein Pferd besteigen und ihn die
Schlange, d. h. die Urmutter des Turkvolkes, töten. Die Sage wurde bis zur
Unkenntlichkeit entstellt. Eine solche Geschichte wurde dem heiligen Georg
(Dshargan, Grigoris) angedichtet. In dieser Version ist sie auch heute bekannt.
All das wurde
unternommen, damit niemand etwas von seiner wahren Großtat erfuhr: dass
die Gestalt des Gottes im Himmel nach Europa vom Turkvolk gekommen war; dass
dieses Volk am Ursprung der christlichen Kultur, die sich in Europa nach dem
Verfall des Römischen Reiches durchsetzte, gestanden und den Niedergang
von Rom bestimmt hatte!
Wie man sieht,
wurde nicht die Sage verändert, vielmehr in böser Absicht die
Geschichte des Turkvolkes entstellt. Das tat nicht etwa ein
eingeschüchterter Mönch, der die Chronik abschrieb. Nein, das tat die
Politik der Westlichen Kirche, die jahrhundertelang die Kiptschak verfolgte.
Eine sehr schlaue Politik. Deshalb ist so wenig Wahres über
Descht-i-Kiptschak und sein Volk bekannt.
Aber Fakten
bleiben Fakten. Sie verändern sich nie, weil sie durch Logik
zusammengehalten werden. Gerade die Logik (eine überaus ernste
Wissenschaft von Beweisen) erlaubte es, so manches Ereignis zu rekonstruieren
und den wirklichen Hergang aufzuspüren.
In Wirklichkeit
geschah aber Folgendes. Im Jahre 311 tauchten griechische Christen in Derbent
auf. Sie hatten böse Absichten und führten ein unerhört gemeines
Verbrechen im Schilde, dessen Spuren bis heute verborgen werden.
Das ehemalige
Römische Reich wurde damals von großer Verwirrung und
Unzufriedenheit heimgesucht: Die frühere Macht war gefallen, eine neue
nicht da. Sieben Anwärter kämpften um den Thron. Die Menschen sprachen
offen von der Ohnmacht der alten römischen Götter. Kurzum, das
Riesenreich zerfiel in ein Östliches und ein Westliches Reich. Und
überall herrschte ein großes Chaos.
Die Griechen
besannen sich als Erste unter den Europäern der uralten Regel der Politik:
„Wes Gott herrscht, des ist die Macht.“ Sie gingen zu den Kiptschak, um ihnen
hinterlistig den Gott des Himmels zu stehlen und so die Macht über Europa
zu bekommen. Bis dahin hatte sich niemand so etwas einfallen lassen. Man kam
zum Turkvolk sonst, um zu lernen und nicht, um ihnen etwas zu stehlen.
Einer der sieben
Kaiser (oder doch erst Anwärter auf den Thron des ins Schwanken geratenen
Römischen Reiches) war der Grieche Konstantin. Ebenso wie die Übrigen
war er jedoch ein „nackter“ Kaiser, denn er hatte zwar den Titel, aber keine
Armee und also auch keine Macht.
Über das
mediterrane Gebiet herrschte Maxentius, ein wirklicher Kaiser. Seine Armee lag
in Rom, und nichts schien ihr zu drohen. Plötzlich aber tauchten Reiter
auf. Über ihnen wehten Kreuzfahnen (Labari), wie sie die Europäer
früher nie gesehen hatten. Der Überfall war dreist und
überraschend.
An der Mulvischen
Brücke – an den Mauern des unbesiegbaren Rom! – wurden Maxentius’ Truppen
im Jahre 312 aufs Haupt geschlagen, er selbst fand den Tod. Konstantin
erklärte sich sofort zum Sieger. Er hatte nämlich ein Bündnis
mit den Kiptschak geschlossen und mit ihren Händen das erreicht, was er
wollte. Die turkischen Reiter gewannen die Schlacht, aber zugeschrieben wurde
der Sieg den Griechen, die nicht einmal eine Armee hatten.
Die die
Kräftegruppierung in Europa veränderte sich einschneidend zugunsten
Konstantins. Die Zeit der Wirren war zu Ende.
Bemerkenswert
ist, dass die Griechen 312 auch turkische Geistliche zu sich einluden, und
diese beteten vor dem versammelten Volk zu dem Einen Gott
(selbstverständlich taten sie das in der Turksprache). Sie beteten auf den
Plätzen griechischer Städte, das hatte Licinius, Konstantins Rivale
im Kampf um die Macht im Osten des Reiches, so verfügt.
Damals hörte
man das Wort „Bog“ in Europa erstmalig, und man hörte es von
Angehörigen des Turkvolkes. Das sind unauslöschliche Fakten der
Weltgeschichte.
Die Menschen
sahen im Sieg über Maxentius Gottes Willen. Unter der Kreuzfahne hatten
die Kiptschak-Truppen mühelos die römische Armee geschlagen, und das
wurde als ein Zeichen des Himmels aufgenommen. Ja, sagten alle, es sei wohl so:
Wes Gott herrscht, des ist die Macht.
Konstantin, ein
sehr geschickter Politiker, begriff sofort, dass es nun darum ging, sich den
Glauben an den neuen Gott „anzueignen“, diesen Glauben und die Kiptschak zu
seinen Verbündeten zu machen. Deshalb sprach er sich gleich Licinius
für die Anerkennung des neuen Christentums aus, das damals im Kaukasus
entstanden war. Das Bündnis mit den Kiptschak war für ihn höchst
vorteilhaft.
Wenn die
Geschichte von Wissenschaftlern geschrieben wird, gehen einige von ihnen auf
Geheiß von Politikern daran, etwas zu negieren, anderes zu verschweigen
oder zu verbergen. Als wüssten sie nicht, dass sich die Wahrheit nicht
verbergen lässt. Sie kommt doch an den Tag. Die Griechen gingen den Weg
der Verheimlichung der Wahrheit. Unter Konstantin nahmen sie den Glauben an
Gott an, niemand bestreitet das. Aber sie übernahmen ihn von turkischen
Geistlichen! Darüber schweigen die Geschichtsschreiber aus irgendeinem
Grunde. Sie vergessen gleichsam, dass es damals keine anderen Lehrer und
Träger des Glaubens an den Gott des Himmels gab als die Kiptschak:
Im Osten ging aus
der turkischen Religion der Buddhismus, im Westen das neue Christentum hervor.
Tengri offenbarte sich den Menschen auf verschiedene Weise, seine Anwesenheit
war eine weitere Spur der Großen Völkerwanderung. Die Europäer
erkannten den Gott und mit ihm auch die geistliche Kultur des Turkvolkes an.
Das lässt sich nicht verheimlichen.
Ebenso wenig wie
die Tatsache, dass Konstantin den Gott nicht anerkannte. Er blieb sein Leben
lang ein Heide, der Oberpriester. Denn was ihn interessierte, war nicht der
Glaube, sondern die Macht. Er ließ nichts unversucht, um die Kiptschak mit
List auf seiner Seite zu behalten, damit sie ihm mit ihren Händen die
Macht brachten.
Er zahlte
großzügig für den Sieg über die Römer, geizte nicht
mit Geschenken und Versprechungen, ihm war nichts zu schade, so sehr
wünschte er, die turkischen Krieger möglichst lange in seinem Dienst
zu haben. Und die Reiter blieben da! Es war, als hätten die Griechen sie
verzaubert. Diese Verräter wurden später „Föderaten“ genannt
(vom lat. foederatus,
„Verbündeter“.)
Konstantin machte
sich bei ihnen auf jede Weise beliebt. So führte er z. B. einen neuen
Kalender ein und verlegte den arbeitsfreien Tag auf den Sonntag, wie das bei
den Kiptschak üblich war. Er verpflichtete die Menschen, in die Kirche zu
gehen und zum neuen Gott des Himmels zu beten.
Vor 325 hatten
die Griechen wohlgemerkt nur zu Tengri gebetet sowie die turkischen heiligen
Texte und Gebete gelesen.
Eine
außerordentlich bedeutsame – und völlig in Vergessenheit geratene –
Tatsache. Dabei bringt sie Licht in so manches dunkle Kapitel der Geschichte
Europas. Die Münzen von Byzanz zeigten die Darstellung der Sonne, oder,
richtiger, die gleichseitigen „Sonnenkreuze“, die Zeichen der Sonne. Konstantin
selbst galt nur noch als „Anhänger des Sonnenkultes“. Warum eigentlich?
Mehr noch, die
Turksprache bürgerte sich für lange Zeit in der byzantinischen Armee
ein, so dass sie „Soldatensprache“ genannt wurde. Tausende Familien der
Steppenbewohner siedelten zu den Griechen über. Sie bekamen die besten
Ländereien, für ihre Übersiedlung wurde den Khans von
Descht-i-Kiptschak mit Gold gezahlt. Sicherlich gehören diese
Übersiedlungen ebenfalls zur Großen Völkerwanderung, sie
bildeten deren Fortsetzung. Allerdings war diese Wanderung nicht freiwillig,
eher doch ein Ankauf von Menschen gegen Gold.
Im Grunde schufen
gerade die Kiptschak Byzanz, das berühmte Land im Osten Europas. Nach drei
Generationen bildete sich dort die byzantinische Kultur heraus, eine bis heute
viel bewunderte Frucht der Gemeinschaft von zwei Völkern. Nach Meinung von
Fachleuten überwog darin doch der Orient.
Kein Wunder auch.
In Europa wiederholte sich die Geschichte des Kuschanreiches – mit dem einzigen
Unterschied, dass in Byzanz nicht ein Angehöriger des Turkvolkes, sondern
ein Grieche herrschte. Doch das Verschmelzen von zwei Kulturen ist nicht zu leugnen.
(Wie billig aber hatten sich die Griechen die Kiptschak erkauft, wie schlau sie
überlistet!)
Nun hatte
Konstantin keine Feinde mehr, er hatte die vertrauensseligen Kiptschak mit
sicherer Hand für sich gewonnen. Deshalb war ihm nichts zu schade, um Freundschaft
mit ihnen zu halten und sie auf seine Seite zu bringen. Sonst hätte
niemand etwas von Byzanz gehört.
Im Jahre 324
gründete der Kaiser seine neue Hauptstadt Konstantinopel. Mit ihrem Aufbau
betraute er turkische Meister, denn er wollte, dass sie die Stadt – den
Römern zum Trotz – auf ihre eigene, orientalische Weise bauten und darin
auch Tengri-Kirchen aufführten. Der schlaue Kaiser hatte an alles gedacht!
So entstand
Byzanz.
Kaiser Konstantins Hinterlist
Die gestrige
Kolonie Roms erstarkte von Jahr zu Jahr, dank den Kiptschak verwandelte sie
sich rasch in ein blühendes Land. Das Bündnis mit ihnen gereichte ihm
zum Vorteil. Die Griechen diktierten Ägypten, Palästina, Syrien und
selbst Rom die eigenen Bedingungen. Doch Konstantin begnügte sich auch damit
nicht mehr.
Im Jahre 325
versammelte er in der Stadt Nikäa alle christlichen Geistlichen. Das war
das erste Konzil aller Geistlichen (ökumenisches Konzil), das später
nach der Stadt Nikäisch genannt wurde.
Das Konzil hatte
nur ein einziges Ziel, daraus wurde kein Hehl gemacht. Der Kaiser befahl dem
Konzil, eine christliche Kirche zu errichten, aber bereits nicht nach
turkischem Muster, sondern auf griechische Weise. Mit dieser Absicht hatte er
sich jahrelang getragen, um dieses Zieles willen alles in Kauf genommen und vor
nichts Halt gemacht.
In der
Griechischen Kirche verschmolzen Tengri und Christus nach Konstantins Gedanken
zu ein und derselben Person, zu dem Einen Gott. Die Griechen meinten, wenn sie
sich den Namen Tengri aneigneten, würden sie auch seiner Kraft habhaft
werden. Ebendazu brauchten sie das Nikäische Konzil und eine eigene
Kirche.
Doch wenn sie
Tengri ihrer Kirche einverleibten, vergriffen sie sich an den Gebeten, Riten
und Tempeln des Turkvolkes. Im Grunde an seiner gesamten geistlichen Kultur.
Was das Turkvolk in Jahrhunderten gesammelt und zusammengetragen hatte, ging
nun an Byzanz und dessen Kirche über. Das war ein schweres Verbrechen am
Turkvolk. Daher rührt das Streben, es totzuschweigen.
Beim
Nikäischen Konzil verstand zuerst überhaupt niemand, was Kaiser
Konstantin da eigentlich befohlen hatte. Als man das erkannte, löste das
Empörung aus. Es war ja völlig absurd, ja lästerlich, Gott und
einen Menschen miteinander verschmelzen zu lassen.
Als Erster setzte
sich der ägyptische Bischof Arius für Tengri ein. Er sagte, man
dürfe nicht einen Menschen Gott gleichsetzen, denn Gott sei der Geist, der
Mensch aber bestehe aus Fleisch, sei also eine Schöpfung Gottes, die nur
auf Gottes Willen zur Welt komme und sterbe.
Arius war ein
hochgebildeter Mensch und sprach überzeugend. Die Bischöfe der
Armenischen, der Albanischen, der Syrischen und anderer Kirchen
begrüßten ihn. Keiner von ihnen negierte selbstverständlich
Christus, doch niemand setzte ihn auch Gott gleich. Sie fürchteten die
Strafe des Himmels.
Die Diskussion
endete traurig. Kaiser Konstantin unterbrach sie grob und sagte, er erlaube es
nicht, ihm zu widersprechen.
Aber die
Bischöfe, die mit ihm nicht einverstanden waren, änderten ihre
Meinung nicht. Sie fügten sich dem Befehl von Konstantin nicht und setzten
Gott nicht Christo gleich. Anders gesagt, sie bewahrten den Glauben, den sie
turkische Geistliche in Derbent gelehrt hatten, in Reinheit.
In den
christlichen Kirchen Armeniens, Kaukasisch-Albaniens, Iberiens, Syriens,
Ägyptens und Äthiopiens blieb Tengri der wahre Gott. Der einzige
Gott, zu dem man betete. Er wurde auf Ikonen abgebildet, ihm wurden Tempel
gewidmet.
Es ist
erstaunlich, aber die turkischen Khans übersahen das Nikäische
Konzil, als hätten sie in einer anderen Welt gelebt. Ihr Credo lautete:
„Es gibt keinen Gott außer dem Einen Gott.“
Die Griechen
konnten auch diesmal das durchsetzen, was sie wollten. Um sich wieder einmal zu
rechtfertigen, erfanden sie das Neue Testament, ein Buch über die Taten
Christi und seine Entstammung, wobei sie erklärten, sie hätten
Aufzeichnungen von Christi Lehrlingen gefunden. Ihre Verlogenheit kannte keine
Grenzen.
Wie hätten
solche Aufzeichnungen gefunden werden können? Und wo? Wenn doch der Name
Christus erst im 2. Jahrhundert (von den Griechen selbst!) erstmalig
ausgesprochen wurde.
Für solche
Fälle gilt die turkische Redewendung: Spuckt man in den Himmel, so trifft
man das eigene Gesicht.
Im Übrigen
gaben sich die Erdichter des Neuen Testaments nicht viel zu viel Mühe. Als
die griechischen Redakteure von Gesser (Tengris Sohn) erfuhren, schrieben sie
einen Teil seiner Taten Christus zu, und etwas entlehnten sie, ohne es zu
verbergen, der Geschichte Buddhas. Auf diese Weise stellten Politiker,
Menschen, die alles andere als religiös waren, das Hauptbuch des
Christentums zusammen, und ebensolche Politiker schrieben es später immer
wieder um. Mit dem wahren Glauben hatte das nichts zu tun.
Konstanin war
eben ein Politiker, er wusste ausgezeichnet, was er tat, war bestens über
alles unterrichtet und wählte eine sehr günstige Zeit für die
Gründung seiner Kirche. Damals spitzten sich die Beziehungen zwischen den
Kiptschak und den Alanen stark zu, und sie hatten wenig Zeit für die
griechischen Novitäten.
„Wenn zwei
einander befeinden, muss einer von ihnen sterben“, heißt es im Orient.
Die Schlacht um den Don
Der Orient lebte
immer nach seinen eigenen Regeln. Dort hatte man stets die eigene
Lebensauffassung, die eigenen Wertvorstellungen. Der Orient verzeiht eine
Schuld, vergisst jedoch eine Beleidigung nie.
Die Feindschaft
zwischen Alanen und Kiptschak wegen des Flusses Don dauerte lange. Sie legte
sich auch nach Khan Aktasch nicht. Früher oder später musste der
Streit doch ein Ende nehmen. Der Grund war nicht der Fluss, dieser lieferte nur
den Vorwand.
Der Don bildete
zu jener Zeit Europas Ostgrenze. Die Kiptschak kämpften um das Recht, den
europäischen Boden zu betreten. Wer ihnen im Wege stand, waren nicht die
Alanen, sondern immer noch die Griechen und Römer, die den Alanen
insgeheim halfen und in den Angehörigen des Turkvolkes eindeutig nur
Föderaten, d. h. abhängige Söldner, sehen wollten.
Das waren die
geheimen Federn der Politik.
Es besteht die
Meinung, dass das Wort „Don“ auf die Landkarte aus der Sprache der Alanen
gekommen war (wenigstens behaupten das einige Wissenschaftler). Schon
möglich. Bei den Alanen bedeutete es „Wasser“. Ebenfalls möglich.
Bestehen andere Flüsse aber vielleicht aus Sand und Steinen?
Der Streit brach
natürlich nicht wegen des Flusses und seines Namens aus. Die Kiptschak
brauchten den Zugang zum Don, zu den Steppen Europas, sie benötigten neue
Territorien, weil ihre Bevölkerung zunahm, und das sehr schnell. Das
reiche Leben in ihren Städten und Stanizas wirkte sich auf die
Bevölkerungszahl aus: Geachtet wurden große Sippen und reiche oder
doch wohlhabende Familien und Häuser.
„Vier Kinder
machen noch keine Familie aus“, sagten die Kiptschak. Nach dem fünften
(oder siebenten!) Kind genoss ein Mann Achtung in der Gesellschaft. Am besten
war, wenn es lauter Knaben waren.
Nach einer
Tradition, die sich damals bei den Steppenbewohnern herausbildete, blieb der
jüngste Sohn im Haus seines Vaters, um die betagten Eltern zu
stützen. Die älteren Kinder zogen in neue Lande aus oder traten den
Dienst in der Armee an.
Sehr weise Gesetze
bestanden in Descht-i-Kiptschak: Das Land lebte um seiner Kinder willen, sorgte
für sie. Man pflegte die Kinder auf jede Weise, damit sie später ihre
Eltern pflegen konnten.
Falls eine
Familie aus welchen Gründen auch immer nur einen Sohn hatte, trug er einen
Ohrring. In der Armee sah der Kommandeur beim Kommando „Richt euch!“ den
Ohrring und wusste, dass er diesem jungen Mann keine gefährlichen
Aufträge erteilen durfte. Wer der letzte Mann in seiner Familie war, trug
zwei Ohrringe. Um die Familie (den Stamm) zu erhalten, sorgte man ganz
besonders dafür, dass er am Leben blieb.
Zur Armee gingen
alle Männer, dieser Dienst war für sie Pflicht, eine Ehrenpflicht.
Ausnahmen gab es nicht. Falls ein junger Mann die Armee nicht durchgemacht
hatte, durfte er nicht heiraten. Junge Mädchen beachteten einen solchen
Jüngling nicht. Und so gaben sich die Jungen die größte
Mühe, um sich auszuzeichnen. Die Armee war ein starker Stimulus im Leben
der Gesellschaft, sie wurde von allen geachtet.
Vor dem
Armeedienst bekam ein Junge einen Fohlen, den er pflegte, und so kam er mit
eigenem Pferd und eigenen Waffen zur Armee. Er war bereits nicht schlecht auf
das Leben auf Märschen vorbereitet und konnte vieles. Auch das war eine
Tradition: Ein Junge hatte stets zu arbeiten, für Müßiggang
blieb ihm keine Zeit. Den Tag über half er den Eltern im Haus oder auf dem
Feld, oder er trainierte mit seinen Altersgenossen. So, in Mühe und
Arbeit, erkannte er die Regeln des Lebens in der Steppe. Anders waren sie nicht
zu lernen.
Die Kiptschak
waren geborene Reiter. Niemand in der Welt saß besser im Sattel als sie.
Das Pferd war das zweite Ich eines Angehörigen des Turkvolkes, und das
galt sowohl für Männer als auch für Frauen. Es gibt kein
reineres, kein edleres Tier auf der Erde als das Pferd. Sie waren anerkannte
Meister im Umgang mit dem Pferd.
Verwegene junge
Männer erfreuten die Alten, die schon vieles erlebt und gesehen hatten.
Das Kunstreiten stand beim Turkvolk immer hoch in Ehren. Pferd und Mensch
verschmolzen zu einem Ganzen. Nur derjenige, in dem das Blut des Turkvolkes
nicht erkaltet ist, weiß diese Hervorbringung der Großen Steppe
nach Gebühr zu schätzen. Die Kiptschak konnten sich Fest- und
Wochentage ohne Rennen, ohne Wettbewerbe im Reiten nicht denken. Kein Wunder,
dass das Reiterheer für immer die Hauptstoßkraft von
Descht-i-Kiptschak blieb.
Aber für
einen Krieg gegen die Alanen reichte das nicht.
Die Alanen
zeigten sich in der Kampfkunst überlegen. Besonderen Wert legten sie auf
den Gefechtsaufbau. Sie stellten sich zu einem Kampfquadrat auf und sicherten
sich nahtlos mit ihren Kupferschilden ab, hinter denen ihre langen Lanzen
hervorstachen. Jede Annäherung war schwer. Kurze Schwerter und leichte
Pfeilbögen in den Händen der alanischen Krieger hielten alle zurück.
Da halfen den
Reitern ihre Säbel wenig. In der Kriegskunst waren die Alanen damals
sowohl den Römern als auch dem Turkvolk überlegen. Trotzdem fanden
die Kiptschak heraus, wie ihnen beizukommen war. Lange hatten sie gesucht – und
den Ausweg gefunden. Sie erfanden den schweren Pfeilbogen (er ist in die
Geschichte der Waffen als „schwerer Pfeilbogen turkischen Typs“ eingegangen).
Nicht jeder
junger Mann konnte einen solchen anderthalb Meter langen Bogen spannen, nicht
jeder war imstande, aus ihm einen Pfeil mit schwerer Eisenspitze
abzuschießen.
Noch früher
waren bei den Kiptschak heulende Pfeile in Gebrauch gekommen, das war eine
ebenfalls glückliche militärische Erfindung. Im Flug heulte der Pfeil
erschreckend, als verkündete er ein Unheil, als flöge da ein
böser Dämon daher.
Es gab wohl auch
andere Erfindungen und Neuheiten. Leider ist die Militärgeschichte jener
Zeit von Wissenschaftlern noch wenig erforscht.
Das Jahr 370, ein
historisches Jahr, brach an. Khan Balamir zog aus, um sich dem Don zu
nähern. Er hatte ernste Argumente für eine ernste Auseinandersetzung.
Die Alanen wussten nichts von den neuen Erfindungen der turkischen
Waffenschmiede, stellten sich wie immer zu ihrem Kampfquadrat auf und
erstarrten in Erwartung des Angriffs. Die Hornisten spielten das schicksalsträchtige
Signal zum Angriff, und der Sturm war nun unvermeidbar.
Diesmal hatten es
die Kiptschak jedoch nicht eilig mit einem Angriff. Khan Balamir küsste
die Fahne, sprach mit fester Stimme die Worte des Eides und segnete die Truppen
nach alter turkischer Tradition mit dem Tengri-Zeichen, dem Kreuz. Erst dann
unternahmen sie eine Annäherung an den Gegner.
Vor seinen Reihen
machten die Krieger Halt. Ein Kampflied wurde angestimmt. Die
Bogenschützen traten vor. Eine Salve von pfeifenden Pfeilen versetzte den
Gegner in Schrecken. Es war, als heulten böse Geister über den
Köpfen der Alanen, als hätten Hexen ein Unglück
heraufbeschworen. Die Armee geriet in Unruhe. Doch das war erst eine
Nervenattacke. Allerdings gelang sie aufs Beste.
Für die
Fortsetzung sorgten die Recken von Bogenschützen. Ihre schweren Pfeile
waren tödlich. Die Kupferpanzer schützten die Alanen nicht mehr als
eine Eierschale: Die turkischen Pfeile durchschlugen sie ohne weiteres. In die
Kampfreihen wurde Verwirrung getragen, eine Panik brach unter ihnen aus. Erst
dann nahm der Kampf den erwünschten Verlauf an. Die Säbel pfiffen
durch die Luft, schlugen und schlugen nieder, unermüdlich. Schon war das
Don-Wasser blutrot und der Boden mit Leichen bedeckt. Aber die Säbel wurden
immer noch geschwungen.
Die Kiptschak
gingen aus der Schlacht als Sieger hervor. Zwei Jahre lang kehrten sie nicht
zum blutroten Don zurück; die Erde brauchte Zeit, um sich zu erholen.
Erst im Jahre 372
trafen hier die ersten Kibitkas (Zelte) der Aufklärer ein. Diesmal kamen
sie, um den Ort für Städte und Stanizas zu wählen.
Archäologen haben es genau festgestellt: Fast alle alten Städte am
Don wurden gerade damals angelegt, und zwar von den Kiptschak.
So setzte sich
der Name „Don“ für den Fluss Tanais durch. Anders hieß er Ana-Don
(Mutter Don), so nannten ihn bisweilen die Kumyken.
„Don“ ist ein
Wort der Turksprache und bedeutete in alten Zeiten so viel wie „hügelige
Gegend“. Man vergleiche: Im Alten Altai gab es einen Don-Terek, einen
Don-Chotan und noch andere ähnliche Namen. Folglich hatte das Turkvolk das
Wort gekannt und gebraucht. Der Name betonte, dass ein Fluss nicht durch eine
flache Steppe, sondern durch eine mit Erhöhungen und Hügeln floss.
Davon eben
spricht dieser kurze, aber ausdrucksvolle Name.
Das Turkvolk in Europa
Die
Steppensiedlungen entstanden in einer immer größeren Entfernung vom
Altai. Die Grenze des unübersehbaren Landes verschob sich immer weiter
westwärts. Seinen Riesenausmaßen nach hatte das Land bereits nicht
seinesgleichen in der Welt.
Das Römische
Reich besaß in seinen besten Zeiten nicht einmal ein Viertel des
Territoriums, das auf Descht-i-Kiptschak entfiel. Byzanz hält da
überhaupt keinen Vergleich aus, sein Territorium war nicht
größer als ein oder zwei Jurts (Bezirke) der Großmacht in der
Steppe.
Acht Monate nahm
die Reise von der West- bis zur Ostgrenze der Großen Steppe, von
Zentraleuropa bis zum Strom Ilin in Anspruch.
Die Kiptschak
machten das „Niemandsland“ bewohnbar, dadurch wuchs ihr Territorium.
Natürlich bedurfte das großer Anstrengungen. Die Menschen hatten
stets gegen die Unwegsamkeit, den grimmig kalten Winter, die Dürren, die
Überschwemmungen im Frühjahr zu kämpfen. Trotzdem zogen sie
immer weiter und hinterließen Städte und Dörfer, Straßen
und Übersetzstellen, Ackerböden, Gärten, Kanäle und Weiden.
Es gehörte
viel Arbeit dazu, die unbewohnten Ländereien zu erschließen.
Jedesmal musste man beim Nullpunkt anfangen, damit da Straßen,
Übersetzstellen, Stanizas, Ackerland und Städte entstanden. Und so
ging das von Jahr zu Jahr und nahm das Leben von Generationen in Anspruch.
Gewiss gab es
Zusammenstöße mit dem Gegner, aber so große Schlachten wie die
um den Don nicht mehr. In Europa war die Stärke der Kiptschak schon
bekannt: Die Kunde davon eilte ihren Truppen voraus.
Säbel und
Pflug, Schlachtross und Schafherde, Krieger und Hirt … All das gehörte zum
Wappen der Großen Völkerwanderung, all das waren ihre Symbole. Hinzu
kamen Bauarbeiter, Handwerker, Schmied, Waffenschmied, Weber, selbst Winzer und
Bäcker. Nur wer all das meisterlich beherrschte, war imstande, das
unwohnliche Land für die Menschen zu erschließen.
Die Kiptschak
verstanden sich auf all diese Tätigkeiten. Die Große
Völkerwanderung war nicht Eroberung anderer Länder und Völker,
sie war vielmehr Schaffung eines eigenen, neuen Landes. Nicht heidnische
Tataren und nicht kriegerische Nomaden erschlossen die Steppe, wie das manchmal
geschrieben wird; es waren vielmehr Menschen, die fleißig arbeiten
konnten.
Am Steilufer der
Desna begründeten die Kiptschak im 5. Jahrhundert die Stadt Birintschi
(später Brjanetschsk), was in der Turksprache „die Erste“, „die
Wichtigste“ bedeutet, und sie wurde später zur Hauptstadt von
Descht-i-Kiptschak, zu einer der einflussreichsten Städte Europas.
Der Ort war gut
ausgewählt. Hier grenzte die Steppe an den Wald und die turkische Welt an
Nordeuropa. Gegenwärtig heißt die Stadt Brjansk. Über ihre
Vergangenheit wird Schweigen bewahrt. Nur die örtlichen Archäologen
wundern sich über Funde, die wenigstens anderthalbtausend Jahre alt sind.
Doch niemand vermag die Herkunft dieser „seltsamen“ Funde zu erklären. Die
Stadteinwohner wissen nichts von sich selbst und ihrer Stadt. Sie sehen die
Ziegel und Fundamente altertümlicher Gebäude, in der Erde finden sie
Scherben von Tongeschirr, ab und zu Goldgegenstände und wundern sich – mit
Recht. Vor tausend Jahren klang hier die Rede ihrer Ahnen, aber an sie erinnern
sie sich nicht mehr. Die altertümliche Stadt hat jetzt keine Geschichte,
auf Geheiß Peters I. wurde sie vergessen oder, richtiger, gelöscht.
Dabei spielte
Birintschi in der turkischen Welt eine sehr wichtige Rolle. Hier lebten der
Obergeistliche und die „weißen Wanderer“ (so nannten die Kiptschak ihre
Prediger). Birintschi war die geistliche Hauptstadt der Großen Steppe,
ein heiliger Ort.
Bedeutend war sie
auch wegen reicher Eisenerzvorkommen. Deshalb hieß sie auch die
Hauptstadt, während ringsum einfach Städte lagen, zahlreiche
größere und kleinere Städte.
Zur Zeit der
Großen Völkerwanderung wurde z. B. die Stadt Tolu (heute Tula)
angelegt: eine Stadt der Handwerker, Metallwerker, Waffenschmiede und anderer
Leute mit geschickten Händen. „Tolu“ stammt vom Wort der Turksprache
„tolum“, Waffe. Leider lebt auch diese Stadt heute ohne Vergangenheit,
gleichsam schlafend, dahin. Auch diese Vergangenheit wurde abgeschnitten, wie
die ganze alte Geschichte der Großen Steppe und des Turkvolkes
abgeschnitten wurde.
Ebenso traurig
ist das Schicksal des alten Kurssyk (heute Kursk). Was war das für eine
Stadt? Womit befassten sich ihre Einwohner? Die Toponymik erklärt das
eindeutig: In der Turksprache bedeutete der Name „zum Kampf bereit“. Diese
turksprachige Bedeutung weist darauf hin, dass die Stadt eine Art Vorposten und
Befestigung war.
Auch Karatschew
war eine Stadt, die erwachte, sobald das Wecken geblasen wurde. Diese
Städte der Krieger bewachten die fernen und nahen Zugänge zu
Birintschi. Andere Städte lebten von ihrem Gewerbe, von ihren
Werkstätten: Kipensaj (heute Pensa), Buruninesh (Woronesh), Schapaschkar
(Tscheboksary), Tscheljaba (Tscheljabinsk), Bulgar; ihre Zahl ging in die
Dutzende.
Die Städte
von Descht-i-Kiptschak waren durch Straßen und Poststationen miteinander
verbunden.
In jenen fernen
Zeiten entstand auch die Stadt Baltawar (heute Poltawa), berühmt für
ihren Handel. Dort wurden reiche Messen und Jahrmärkte abgehalten, zu
denen Kaufleute selbst aus fernen Ländern kamen. Das bestätigt auch
der Name der Stadt, „wohlhabend“ in der Turksprache. Natürlich war das
nicht die einzige Handelsstadt in Descht-i-Kiptschak.
Am Unterlauf des
Don legte Khan Kobjak eine Stadt auf einem hohen Hügel an. Sie wird bis
heute Kobjakowo Gorodischtsche genannt. In der Nähe befand sich die Stadt
Aksai. Dort lebten Wachen, die die Zugänge zum Don beschützten. Die
Kiptschak bauten am Unterlauf jedes großen Flusses eine Festungsstadt.
Ihre Städte
zeugten von kluger Umsicht. Auf den ersten Blick waren sie einfach angelegt,
unscheinbar, dafür aber genau nach Vierteln geplant und hatten breite
Straßen. Gebaut wurden sie nach den Regeln der turkischen Architektur, d.
h. auf Ziegelfundamenten und unbedingt mit einem Maidan (Zentralplatz), auf dem
die Einwohner ihre Versammlungen abhielten.
Nach Fundamenten
urteilen die Archäologen über altertümliche Gebäude und ihr
Aussehen. Wie sich herausstellt, waren das ingenieurmäßig recht
komplizierte Bauwerke. Die Erbauer arbeiteten nach genauen Berechnungen. Gab es
unter den „Nomaden“ also Ingenieure, Mathematiker und Projektierer? Oder
besaß ein einziger Mensch all die nötigen Kenntnisse? Erstaunlich.
Unter einer Stadt
wurden unterirdische Gänge und riesige Säle für die Verwahrung
von Nahrungsmittelvorräten angelegt. Bei einem überraschenden
Überfall stiegen die Stadteinwohner in die unterirdischen Räume, um
vor dem Gegner sicher zu sein. Die Stadt lag dann wie ausgestorben da. Nichts
verriet die Anwesenheit der Menschen.
Die
Archäologen waren verblüfft, als sie entdeckten, dass unter einer
Stadt gleichsam eine andere, unterirdische Stadt lag. Nicht weniger erstaunlich
sind die Ziegelgewölbe der Säle, die wohldurchdachte Anlage von
Galerien, in denen Reiter unbehindert aneinander vorbeireiten konnten. Ferner
gab es dort Wasserversorgung und Belüftung.
Wie kamen so
kunstvolle Bauwerke zustande? Unbegreiflich. Aber die Kiptschak bauten eine
Zeitlang gerade solche zweistufigen Städte. Manche ihrer Städte
umgaben sie mit einem Pfahlzaun oder einer Ziegelmauer. Das war ebenfalls
Schutz, wenn auch von einer anderen Beschaffenheit.
Eine
Wasserleitung unter dem Steinpflaster war keine Seltenheit. Für sie
verlegte man Tonrohre.
Für
künftige Städte wählte man eine schöne und günstige
Gegend. Aksai z.B. bietet einen einzigartigen Ausblick: auf den Don, die Steppe
und den bis zum Horizont reichenden Himmel.
Vom Don zogen
sich neue Straßen zu einem Fluss, der bei den Griechen Borysthen
hieß. Heute ist dieser Strom als Dnepr bekannt.
Was bedeutet das
Wort „Dnepr“? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Es kommt jedoch
nicht darauf an. Interessanter ist etwas anderes: Den großen
europäischen Flüssen gaben die Kiptschak Namen, die mit „Don“
anfingen. Warum? Donepr, Donestr, Donai. Eine ausgesprochene Codeschrift. Was
bedeutete sie? Die Wissenschaftler haben keine Erklärung dafür
gefunden. Zuerst beschlossen sie, dass es sich um einen Zufall handele. Dem war
jedoch nicht so. Die Erklärung ist wiederum in den Hügeln und
Erhöhungen, an denen diese Flüsse vorbeifließen, und in der
turkischen Tradition zu suchen. (Neue Länder zu entdecken, ist für
uns keine gewohnte Sache mehr, und geografische Namen zu geben, überhaupt
eine vergessene Beschäftigung.)
Die Kiptschak
hatten ihre Aufklärungstrupps, diese sahen sich die Steppe genauer an:
Waren dort Weideplätze vorhanden, konnte man dort Ackerbau treiben oder
Siedlungen anlegen? Und sie waren es, die die Namen gaben. Aber wie? Das wissen
wir nicht.
Vorsichtig ritten
die Aufklärer durch die unbewohnte Steppe. Ebenso vorsichtig folgten ihnen
die Übersiedler. Zweihundert Jahre lang bewegte sich die Avantgarde des
Turkvolkes vom Altai fort, bis sie Europa erreichte.
Die Alpen
(genauer: ganz Europa auf einmal) zu sehen – diese Ehre wurde dem großen
Anführer des Turkvolkes Attila, dem ewigen Helden der Großen Steppe,
zuteil.
Das heuchlerische Rom
Trotz ihrer
ruhigen und friedfertigen Art versetzten die Kiptschak die römischen
Herrscher in Schrecken. Man fürchtete die selbstbewussten Reiter, deshalb
wurden heimlich Spione ausgeschickt, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit
den Kiptschak Schaden zuzufügen suchten. Doch nach außen hin sah
alles durchaus anständig aus.
So
äußerten sich die Griechen schmeichelhaft über die Kiptschak; seit
dem Jahr 312 zahlten sie Descht-i-Kiptschak freiwillig einen Tribut. (Wie
sollten sie nicht schmeicheln, nicht zu Diensten sein und nicht zahlen, wo doch
in ihrer Armee Kiptschak dienten, ihre Städte von Kiptschak gebaut und
ihre Felder von ihnen bestellt wurden?)
Rom zahlte
ebenfalls einen Tribut, doch keineswegs aus freien Stücken.
Um 380 tauchten
in der Nähe der Nordgrenze des (Westlichen) Römischen Reiches die
ersten Zelte der Steppenbewohner auf. Das Datum stammt von Zeitgenossen.
Folglich entstanden die ersten turkischen Siedlungen hier gerade damals.
Die Nähe der
Kiptschak jagte den Römern zuerst große Angst ein. Doch mit den
Jahren änderte sich das. Ihre Furcht nahm ab. Nach dem Beispiel von Byzanz
suchte Rom nach eigenen Mitteln, die Einwanderer zu überlisten, und fand
sie.
Das kam rasch.
Die Kiptschak wurden damals von Missernten heimgesucht, zwei Jahre
hintereinander herrschte eine entsetzliche Dürre. Der Hunger mähte
die Menschen dahin. Und die römischen Kaufleute fanden den Weg zu den
neuen turkischen Siedlungen. Sie verkauften ihnen alte, verdorbene Ware und
bereicherten sich an der Hungersnot der Kiptschak.
Sie verkauften
die Lebensmittel nur gegen Gold. Wenn aber eine Familie ihr Gold ausgegeben
hatte, tauschten die Kaufleute turkische Kinder gegen das Fleisch krepierter
römischer Hunde ein. Die Eltern sahen keinen anderen Ausweg, sie
verkauften ihre Kinder in die Sklaverei, weil sie ihnen dadurch die einzige
Überlebenschance zu bieten glaubten.
Ein
abscheulicher, niederträchtiger Handel. Er veranschaulicht die Moral der
Römer, ihren wahren Charakter.
Die Kiptschak
litten, blieben jedoch standhaft. Sie hätten die Händler ausrauben
oder vertreiben können, taten es jedoch nicht und ertrugen die Unbill mit
zusammengebissenen Zähnen. Dabei nahm Rom in jenen Jahren das griechische
Christentum an und hieß nun „kathylik“, d. h. ein Verbündeter des
Turkvolkes. Und bereicherte sich an dessen Unglück.
Dieser
„Verbündete“ war zu allem fähig. Er war schon von Byzanz unterworfen
und hasste die ganze Welt. Ganz besonders aber die Kiptschak, die Rom um seine
einstige Macht gebracht hatten. Im offenen Kampf hatten die Römer
verloren, und so begannen sie einen heimlichen Kampf. Dieser währte mehr
als nur ein Jahrhundert, und in diesem Kampf siegten sie: Sie verleumdeten das
Turkvolk vor den Nachkommen und stellten die Kiptschak bald als Missgestalten,
bald als Wilde, bald als Nomaden hin, die sich selbst beim Essen „wie Tiere
aufführten“. In diesem geheimen Krieg gelang ihnen alles glänzend.
Was heißt
„wie Tiere“ essen? Nun, ganz einfach: mit einem Löffel oder einer Gabel in
der Hand, so aßen nämlich die Kiptschak, wobei sie sich noch eines
kleinen Messers bedienten (es steckte immer neben dem Dolch in der Scheide).
Bevor sie „wie Tiere“ aßen, wuschen sie sich die Hände aus einem
Kumgan und wischten sie an einem Handtuch ab.
Die Europäer
hatten von Löffel und Gabel noch keinen Begriff. Sie aßen nicht „wie
Tiere“, nämlich mit den Händen. Griechische Adlige z. B. hielten in
ihren Häusern arabische Knaben, an deren dichtem Haar sie sich nach dem
Essen ihre fettigen Hände abwischten.
Auch von der
Schönheit hatten die Europäer ganz andere Vorstellungen als die
Kiptschak. Der Kaiser von Byzanz Julian galt als schöner Mann, sein Bart
war von Läusen wie von Asche bedeckt. Gewisse Leute bewunderten den
„lebenden“ Bart voller Ungeziefer, und der Kaiser selbst war stolz auf ihn.
Die Griechen und
die Römer kannten eine Einrichtung wie das Bad nicht. Bad war eine
turkische Erfindung. In der Turksprache bedeutete „bu“ so viel wie Dampf und
„ana“ so viel wie Mutter, das Bad (vgl. das russ. banja, Bad) war also „Mutter des Dampfes“.
Die
berühmten römischen Thermen waren bei weitem nicht allen
zugänglich. Nur Auserwählte konnten sich in Rom mit seinen 300 000
Einwohnern ein Bad leisten. Bei den Kiptschak war das ganz anders, das Bad
gehörte zum Alltag. Die Steppe gewöhnte das Volk an Sauberkeit und
Ordnung. Eine Hausfrau durfte das Essen erst dann zubereiten, wenn sie in der
Wohnung sauber gemacht hatte. Die Sauberkeit der Wohnungen und des Körpers
war ein weiterer Charakterzug des Turkvolkes, weil jeder Schmutz in der Steppe
Krankheiten und sogar Seuchen nach sich ziehen konnte. Schmutz wurde nicht
geduldet.
Jeder Kiptschak
wusch sich Gesicht und Hände morgens und abends, außerdem vor dem
Essen und dem Gebet.
Es gab einen
turkischen Aberglauben: Wenn man schlafe, wandere die Seele durch die Welt und
kehre am Morgen zurück. Das geschehe einen Augenblick vor dem Erwachen.
Und wenn ein Mensch sich nicht gewaschen habe, erschrecke die Seele und fliege
für immer fort. (Aus demselben Grund dürfe man im Schlaf den Kopf
nicht unter die Decke stecken.)
Die Kiptschak
hielten sich genau an ihre Sitten und Gebräuche, weil diese auf den
Lebenserfahrungen des Volkes beruhten und seine Weisheit in sich
konzentrierten. Und man erfüllte die alten Gebote, um nicht die Fehler der
Altvordern zu wiederholen.
Jedes Detail
eines Brauchs hatte seinen Sinn, zugleich verlangte ein Brauch den Menschen
nichts Überflüssiges ab.
So bestand ein
ganzes Ritual dafür, wie die Nägel zu schneiden waren. Man glaubte,
die Lebenskraft eines Angehörigen des Turkvolkes (seine „huth“) stecke am
Tage unter seinen Nägeln und in der Nacht unter den Haarwurzeln. Diese
Stellen mussten also besonders sauber gehalten werden, das wusste selbst ein
Kind.
Die Europäer
verstanden vieles im Leben der Kiptschak nicht. Deshalb rätselten sie
herum und erfanden allerlei Absurditäten, um sich Realien aus dem Leben
des Turkvolkes zu erklären.
Wozu brauchten
sie z. B. ihre Kibitkas? Ein Uneingeweihter findet da keine Antwort. Also
meinten die römischen Spione, als sie die Kibitkas der turkischen
Erkundungstrupps in neuen Landen sahen, die Kiptschak seien ein Nomadenvolk.
Und verbreiteten diese Meinung in der ganzen Welt.
Doch die Griechen
sahen etwas anderes bei ihnen, keineswegs nur die Kibitkas. Zufällig haben
sich die Aufzeichnungen des Byzantiners Priskos erhalten. Das ist ein
unschätbares historisches Dokument, der die Wahrheit über die
Große Völkerwanderung, Attila und interessante Einzelheiten aus der
Lebensweise der Kiptschak berichtet. Das Dokument hat sich zufällig
erhalten, alle anderen Dokumente hatten die Römer im Laufe von
Jahrhunderten gänzlich vernichtet.
Die
Aufzeichnungen von Priskos sind deshalb so wertvoll, weil sie von einem Augenzeugen
stammen. Er hat nicht nur gesehen, er hat viele Dinge auch mit der Hand
berührt. Er kam in Attilas Palast als Mitglied einer Botschaft aus Europa,
die eintraf, um den zornigen turkischen Herrscher um Frieden anzuflehen.
Hitzige
Leidenschaften entbrannten damals.
Europas Anfänge liegen im Altai
Attila wurde
gefürchtet. Schon allein die Erwähnung seines Namens ließ die
Herrscher Europas erbeben. Attila – das bedeutete eine halbe Million Reiter,
eine Riesenstärke.
Was ist
eigentlich eine gute Armee? Eine Menge von bewaffneten Menschen? Nein. Sie muss
organisiert, diszipliniert, gehorsam sein, Erfahrungen und Traditionen haben,
einen starken Geist zeigen. Das zeichnet eine gute Armee aus. Dennoch ist das
noch immer zu wenig.
Es ist nicht
schwer, bewaffnete Menschen zusammenzurufen, viel schwerer dagegen und eine
Sache von mehreren Generationen ist es, diese Menschen kämpfen zu lehren.
Die Armee spiegelt all das Beste, was die Kultur der Menschen, die Wirtschaft
eines Landes, schließlich der Charakter eines Volkes aufzuweisen haben.
Die Armee
entsteht nicht aus dem Nichts. Vielmehr wird sie lange erzogen, man
schweißt die Menschen zusammen, wobei diesem Prozess eine Idee zugrunde
liegen muss.
Eine
Geduldsarbeit, aber dankbar, weil eine Armee ihr Volk und ihr Land bewacht und
schützt. Ohne seine Armee hat ein Volk kein Gesicht, es wird früher
oder später zum Diener anderer, wird fremde Befehle ausführen und
fremde Interessen vertreten müssen. Übrigens sind all das längst
bekannte Dinge.
Dennoch lohnt es,
sich ab und zu Gedanken über solche Dinge zu machen. Denn sie
überzeugen uns u. a. davon, dass Attila keineswegs halbwilde Stämme
am Ende Europas zusammentrieb, wie das in Geschichtsbüchern oft
geschrieben wird.
Das Turkvolk
hatte eine ausgezeichnete Armee, die sich bereits in China, im Iran, am Don und
selbst an den Mauern von Rom bewährt hatte. In der Welt gab es keine
stärkere Armee.
Sie war in
Truppen (Tjma) gegliedert, je 10 000 Reiter in jeder Truppe. Die Truppen
gliederten sich in Regimenter und Hundertschaften. Diese wurden aus Sippen
(Jurt oder Ulus) aufgestellt und von einem Khan (Oberhaupt eines Ulus bzw.
Jurt) befehligt. Er ernannte seine Helfer, die Atamane.
Jede Truppe trug
den Namen ihres Khans oder ihrer Sippe. Das war eine alte Altaier Tradition,
die schon bei der turkischen Besiedlung Indiens vermerkt wurde. Eine der
Truppen von Attilas Armee hieß „Burgund“, eine andere „Savoyen“, noch
eine „Thering“. Jede Truppe hatte ihre Fahne und damit ihren Namen und ihre
Kampfgeschichte und genoss Achtung.
Insgesamt
zählte die Armee 50 Truppen; einige davon hießen nach den
Flüssen Jaik, Ural, Don, andere nach einem Jurt.
Selbstverständlich
setzten sie sich aus Angehörigen des Turkvolkes zusammen, und die Reiter
sprachen nur die Turksprache.
Andere Sprachen erkannte
die Armee von Descht-i-Kiptschak nicht an, andere Völker brauchte sie
einfach nicht. Freilich mögen einige Alanen zu den Hilfsverbänden
oder sogar zu den Kriegern gehört haben, denn sie waren ein starkes Volk.
In der Armee von Byzanz herrschte ebenfalls die „Soldatensprache“, d. h. die
Turksprache, vor, denn die Kiptschak machten einen beträchtlichen Teil der
Landesbevölkerung und die Mehrheit der Armee aus. Deshalb mussten die
Griechen sich schon dazu bequemen, die Turksprache zu lernen.
Wenn römische
Spione die Namen von Attilas Trupps – „Theringer“, „Burgunden“, „Langobarden“ –
hörten, verloren sie sich in Vermutungen. Solche Namen hatten sie
früher nie gehört. Was waren das für Menschen? Früher
zwangen die römischen Herrscher Angehörige der unterwofenen
Völker zum Dienst in der eigenen Armee. Also bestehe, meinte man
allgemein, auch die Armee der Kiptschak aus Angehörigen anderer
Völker. Daher rührt die Bezeichnung „Zusammenrottung von
Völkerschaften“, die sich leider in der Wissenschaft eingeführt hat,
wenn die Rede von Attila, seiner Armee und überhaupt von der Großen
Völkerwanderung ist. Daher rühren auch die Bezeichnungen „Hunnen“,
„Goten“ oder „Barbaren“.
Die Römer
gebrauchten absichtlich beleidigende Bezeichnungen für die Kiptschak, denn
sie wollten den Namen des Volkes, das sie besiegt hatte, nicht in den Mund
nehmen. Seitdem spricht man von den Kiptschak nur als von einer
„Zusammenrottung von Völkerschaften“, einem „Stammesverband“, von
„Hunnen“, die Attila angeblich zusammengetrieben hatte.
In Wirklichkeit
war alles ganz anders. So berichten byzantinische Chroniken aus den Jahren 438
– 439 über die „Hunnen“ und angebliche andere „Völkerschaften“ in
Attilas Armee buchstäblich Folgendes: Sie unterschieden sich nur durch
ihre Namen voneinander, sprachen sämtlich dieselbe Sprache und verehrten
Tengri. In anderen Chroniken heißt es, die Hunnen seien frühere
Goten. Und hier ein Zitat aus einem Dokument aus dem Jahre 572: „In dieser Zeit
waren die Hunnen, die wir gewöhnlich als Turkvolk bezeichnen …“
Das sind Fakten.
Wem soll man
glauben: Dokumenten der Epoche der Großen Völkerwanderung, der
Geschichtswissenschaft oder politisierten Wissenschaftlern? Jenen Politikern,
die den Mythos von den „germanischen Stämmen“, die Attila angeblich
vereinigt hatte, erfanden?
Eine Lüge
gebiert bekanntlich immer eine weitere. Gab es überhaupt „germanische
Stämme“? Wenig wahrscheinlich. Jene, die von den Historikern so genannt
werden, kamen im Bestand der Kiptschakarmee aus dem Osten, und zwar als
Jurt-Abteilungen. Ihr Kampfruhm war schon im Altai begründet worden.
Eine einfache und
bekannte, allerdings inzwischen vergessene Sache. Es handelt sich um eine
große politische Lüge, die alles in falschem Licht darstellt. Eine
wahre historische Untersuchung besagter Tatsache steht erst bevor.
Die Kiptschak
nannten ihre Lande in Mitteleuropa Alman (in der Turksprache „entfernt“, „am
weitesten entfernt gelegen“). Diese Territorien waren auch wirklich vom Altai
am weitesten entfernt. (Bis heute nennen nur die Turkvölker Deutschland
Almanien.)
Möglich ist,
dass auch das Wort Alpen von gleicher Abtammung ist. „Alp“ bedeutet in der
Turksprache so viel wie „Held“, „Sieger“.
Vor der
Einwanderung der Kiptschak lebten hier, im Zentrum Europas, seit alters die
Stämme der Franken, Veneder, Teutonen und anderer Völker. Der
römische Geschichtsschreiber Tacitus berichtet recht ausführlich
über sie. Auch andere altertümliche Historiker schrieben über
sie. Und? Bei allen immer das Gleiche. Solche Stämme waren unmöglich
zu einer erstklassigen Armee zu vereinigen, denn sie hatten eine
urgeschichtliche Lebensweise, trugen Tierfelle, ihre Waffen waren Lanzen und
Keulen, während selbst Bronzeschwerter und -spieße dort eine
große Seltenheit darstellten. Davon zeugen neben Tacitus auch
Archäologen. Von welchen „germanischen Stämmen“ kann also die Rede
sein? Von was für einer Konfrontation zwischen diesen Stämmen und
Rom?
Etwas anderes
waren die Burgunden, die „ehernen Reiter“. Diese „Germanen“ waren vom Ufer des
Baikalsees, an dem ihr Jurt gelebt hatte, nach Europa gekommen. Auf dem
Territorium des heutigen Gebiets Irkutsk gibt es eine Gegend namens Burgundu,
und eben dort lebte einst dieser Stamm. Funde der Archäologen aus dem
Alten Altai lassen keinen Zweifel daran aufkommen. In der Geschichte der Burgunden
finden sich tatsächlich die Runenschrift und Zeugnisse der gesamten
turkischen Kultur. Sie bilden ganze Kapitel dieser Geschichte.
Das ist die wahre
Spur dieses „germanischen Stammes“, eine nachgewiesene und nicht frei erfundene
Spur.
Im Jahre 435 (Beginn
der Herrschaft Attilas) erreichte das Heer das Zentrum Europas und
gründete einen Burgund-Jurt (Burgund). Das sind bekannte Fakten. In
Burgund wurde die Turksprache gesprochen und in Runen geschrieben, wovon man
sich auch heute in burgundischen Museen überzeugen kann. Die ausgestellten
Gegenstände sind beredter als alle Worte. Die Ornamente, der Hausrat, die
nationale Küche, selbst das Aussehen der Burgunden – alles zeugt davon,
dass sie turkischer Abstammung sind. Eigentlich liegt kein Grund zu Zweifeln
vor, und wer verstehen will, wird auch alles verstehen.
Burgund ist ein
von den Kiptschak gegründetes Land, davon spricht selbst sein Name.
Es sei
hervorgehoben, dass Übersiedler beim Verlassen ihrer angestammten Lande
immer, in allen Zeiten, deren Namen mitnahmen. Das ist eine weitere Tradition,
die die Menschen befolgen, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen. Aber
ein erfahrener Ethnograf wird da aufmerken. Als die Europäer z. B. Amerika
oder Australien besiedelten, haben sie dort ihre früheren Ortsnamen
behalten, und so entstanden an neuer Stelle New York, Neuengland, New Plymouth,
Moscow, St. Petersburg u. a. Solche Beispiele sind sehr zahlreich.
Hat nicht das
Turkvolk diese Tradition eingeführt, in seinen neuen Siedlungsgebieten
Namen aus seiner alten Heimat zu geben? Im Altai hat sich z. B. Jurt-Tulun
(Tolun) erhalten, im Zentrum von Russland Tolu (Tula), in Frankreich die Stadt
Toulouse. Sie wurden von Attilas Zeitgenossen gegründet. Und in jeder
dieser Städte lebten Waffenschmiede. Toulouse z.B. war zwischen 419 und
508 sogar die Hauptstadt der westeuropäischen Kiptschak (Westgoten). All
diese Städte sind Marksteine auf dem Weg der Großen
Völkerwanderung, und ihre Namen leiten sich von ein und demselben Wort der
Turksprache ab: „tolum“, Waffe.
Begann das
heutige Europa nicht in Sibirien? Und hatte nicht Sibirien dem
zurückgebliebenen Europa neues Leben eingehaucht?
Es ist
schließlich so, dass vom Alten Altai der größere Teil der
europäischen Bevölkerung kam, der durch die Anstrengungen der
römischen Politiker in die Geschichte unter der Bezeichnung „germanische
Stämme“ eingegangen ist.
Neben den
Burgunden kämpften in Attilas Armee Theringer (Thüringer). Auch sie
waren vom Altai gekommen. Auch dort hat sich der Ort ihres Jurt erhalten. Er
ist nicht in Vergessenheit geraten.
„Thering“
bedeutet in der Turksprache so viel wie „tief“, „sehr reich“. Der Name
„wanderte“ zusammen mit der Großen Völkerwanderung und hat auf der
Landkarte mehr als nur eine Spur hinterlassen. Der Theringer-Jurt erschien in
Europa gleichzeitig mit dem Burgund-Jurt. Heute ist er als Thüringen, ein
Bundesland Deutschlands, bekannt. Erst vor relativ kurzer Zeit war er durch
seine Rennpferde, einen ausgezeichneten Kumys (Stutenmilch) und würzigen
Jogurt bekannt. Die alten turkischen Gewerbe haben sich also nicht verloren,
sie leben fort.
Der Name der
italienischen Stadt Turin entbehrt wohl einer Entzifferung, so sprechend ist
er. Die Geschichte dieser Stadt ist ebenfalls sehr eng mit der Großen
Völkerwanderung, mit dem Savoyen-Ulus verbunden.
Man muss
feststellen, dass fast jede alte Siedlung Norditaliens so oder so in der
turkischen Geschichte verwurzelt ist: Die Kiptschak ließen sich hier in
großen Massen nieder. In Venedig gibt es den Türkenplatz, einen
alten Ort in einer altehrwürdigen Stadt. Denn den Ruhm brachten dieser
Stadt gerade die Kiptschak (Langobarden), die eine kleine Ansiedlung zu einer
Stadt entwickelten. Vom Altai brachten sie Lärchen her, auf denen das alte
Venedig bis heute ruht. Nein, die Große Völkerwanderung darf nicht
vergessen werden, wenn die Rede von der europäischen Geschichte ist: Dazu
ist alles im Leben viel zu eng miteinander verflochten.
Sachsen, Bayern,
Savoyen, Katalonien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Tschechien, Polen, Ungarn,
Österreich, England, Litauen, Lettland – die Liste ließe sich noch
lange fortsetzen. Auch sie wurden von den Kiptschak gegründet. Die
Geschichte dieser Länder begann mit Attila. Er brachte die Avantgarde
seines Volkes nach Europa, er behauptete sich an den majestätischen
Bergen, die dem Altai glichen. Und die Berge erhielten den Namen Attila-Alpen,
heute Etzel-Alpen (so haben die Europäer den Namen des turkischen
Feldherrn umgewandelt).
Die
Angehörigen des Turkvolkes benannten auch die Karpaten und den Balkan. In
der Turksprache bedeutet „balkan“ so viel wie „mit Wald bedeckter Berg“, und
zwar nicht mit Nadel-, sondern mit Laubwald. Das heißt dem Wald, an dem
dieser Teil Südeuropas reich ist. Früher hatte er Haemus
geheißen (von Haemimont, Alt-Haemus).
Im Wort
„Karpaten“ ist die Wurzel der Turksprache mit bloßem Auge zu sehen: Es
bedeutet „aus den Ufern treten“, „überlaufen“. In der Tat ist diese Gegend
für ihre gewaltigen Überschwemmungen bekannt. Genauer hätte man
sie nicht benennen können. Vor der Einwanderung der Kiptschak nannten die
Europäer die Gegend Sarmaten-Gebirge.
Attila, der Führer des Turkvolkes
Betrug ist leider
ebenfalls eine Kunst, wenn auch eine schändliche. Die Römer
beherrschten sie vollkommen. Sie erfanden eine Absurdität nach der
anderen, um die Wahrheit über das Turkvolk zu verbergen, die Erinnerung an
dieses Volk auszumerzen und so die eigenen Schwächen und Niederlagen zu
beschönigen. Auf diese Weise entstand z. B. die Sage vom Mars-Schwert.
Dieses Schwert
war in Europa ein Symbol des göttlichen Auserwähltseins. Attila
hörte vom Schwert von einem Hirten, der bemerkte, dass eine Färse in
seiner Herde hinkte. Besorgt, ging der Hirt ihrer blutigen Spur nach und
entdeckte ein aus der Erde hervorlugendes Schwert. Er grub es aus und schenkte
es Attila.
Ein harmloses
Märchen?
Keineswegs. Es
kam nach Attilas glänzendem Siege im Jahre 443 auf. Mit diesem
Märchen suchten die Römer ihre Niederlage zu rechtfertigen. Aber das
Zauberschwert hatte mit den Siegen des Turkvolkes nichts zu tun. Ihre wahren
Gründe – die Stärke der Armee, die Furchtlosigkeit der Krieger, die
Eisenwaffen, die schweren Bögen – sind inzwischen vergessen. Vergessen die
Städte von Gewerbetreibenden und Metallwerkern, die die damals weltbesten
Waffen herstellten. Alles vergessen, alles gelöscht oder entstellt. Die
Siege der Kiptschak wurden auf einen Zufall, ein mysteriöses Zauberschwert
zurückgeführt.
Leider gibt es
nicht wenig solch schlaue Märchen. Darauf bauten die Gegner die turkische
Geschichte auf. Hier eine Andeutung, dort etwas nicht zu Ende Ausgesprochenes,
alles zusammen aber unverschämter Betrug. Was übrig blieb, waren nur
Körnchen der Wahrheit.
Im Jahre 434
bestieg Attila den Thron des Riesenstaates Descht-i-Kiptschak. Das war sehr
wohl ein Staat, dessen Einrichtung die Chinesen bewunderten (darüber
wurden zahlreiche Bücher geschrieben). Attila führte also nicht einen
„Stammesverband“ an, sondern er stand an der Spitze eines weltbekannten Landes.
Attila bestieg
den Thron ganz jung. Zuerst herrschte er zusammen mit seinem Bruder. Die
Herrschaft war erfolgreich. Aber ihre Eintracht passte Byzanz und Rom nicht,
diese trachteten danach, die Brüder zu entzweien und um jeden Preis einen
Streit zwischen ihnen zu entfachen, um in der turkischen Großmacht Wirren
auszulösen und sie zu zerstören.
Verschwörungen
wurden angezettelt, denn einen offenen Kampf fürchteten die Gegner, dazu
waren sie zu hilflos und schwach. Vergiften, bestechen, entzweien,
betrügen, meuchlings morden: Das waren die Lieblingsmethoden der
Feiglinge. Attila musste all das erleben, als er die Herrschaft antrat. Er und
sein Bruder überstanden mehrere Attentate.
Aber Tengri sei
Dank: Die vergifteten Pfeile verfehlten ihr Ziel, und gegen Gift gab es
Gegengift. Selbst hierin zeigten sich die Angehörigen des Turkvolkes
stärker als ihre Gegner.
Attila erhielt
den Beinamen „Gottes Geißel“. Die Gegner verloren sich in Vermutungen,
knirschten mit den Zähnen vor Wut, konnten ihn jedoch nicht ermorden. Und
sie wunderten sich über die Weisheit der beiden jungen Herrscher, denen
selbst Gifte nichts anhaben konnten.
Attilas
Herrschaft begann nicht mit Kriegen, sondern mit Frieden. Er war im Grunde ein
friedfertiger Mensch, wie übrigens alle starken und selbstbewussten
Menschen. In der Stadt Margus nannte er dem Kaiser des Westlichen Reiches seine
Friedensbedingungen und erlegte Rom einen jährlichen Tribut von 300
Kilogramm Gold auf. Ebensoviel zahlte Byzanz.
Rom gab nach. Es
war bereit zu zahlen, nur um nicht Krieg führen zu müssen.
Nach Abschluss
des Vertrages ging Attila im Jahre 435 daran, die Besitzungen von
Descht-i-Kiptschak in Nordeuropa zu erweitern. Zusammen mit seinem Bruder
erreichte er die Ostseeküste. Nicht wenig neue Städte
hinterließ der Einfall ihrer Armee auf dem Territorium des heutigen
Tschechiens, Polens, Litauens und Lettlands.
So entstand in
Nordeuropa ein Aufmarschgebiet des Turkvolkes.
Die Brüder
besuchten ihre Besitzungen am Idel, Don und Jaik, im Altai und im Kaukasus.
Descht-i-Kiptschak war ein großes Land, die Herrscher hatten viele
Sorgen. (Ein Echo jener Besuche hat sich in Volkssagen erhalten. Attila ist der
Lieblingsheld aller europäischen Völker turkischer Herkunft.)
Rom und Byzanz
fürchteten die Verstärkung der benachbarten Großmacht sehr.
Ihnen kam sie keineswegs gelegen. Allerdings wussten sie nicht, wie sie die
Brüder zum Stehen bringen konnten. Dann fanden sie den Weg doch: über
die Christen! Nur sie, die langjährigen Verbündeten, hatten Zugang
zum Turkvolk, zu seinen Geistlichen.
Der Bazillus des
Haders drang in Descht-i-Kiptschak ein. Die Christen ahnten gar nicht, dass mit
ihren Händen eine schlaue Intrige angezettelt wurde. Die Politiker hatten
heimlich die Religion zu ihrer Waffe gemacht.
Dieses Übel
suchte die Kiptschak heim. Es schlich sich langsam ein und verlief im
Verborgenen. Neid, Klatsch, Verleumdung schienen aus dem Nichts zu entstehen,
doch wirkten sie unaufhaltsam, wie Rost auf Eisen. Alles wurde sehr geschickt
eingefädelt. Als Byzanz die immer häufigeren Zusammenstöße
zwischen beiden Brüdern sah, verweigerte es den Tribut.
Attila
durchschaute die Hinterlist des Feindes und söhnte sich mit seinem Bruder
aus. Im Jahre 441 ließ er seinem aufbrausenden Temperament die Zügel
schießen. Seine Reiter machten es den Griechen rasch klar, dass ein
Vertrag mit den Kiptschak voll und fristgemäß zu erfüllen war.
Damals war es,
als ginge ein Feuersturm über die Nordgebiete von Byzanz, ungestüm
und unabwendbar. Die Städte versanken in Finsternis: Trümmer waren
dort, wo früher das Leben geherrscht hatte. Der Kaiser von Byzanz geriet
in Verzweiflung, er bat um einen Waffenstillstand und war bereit, dafür
jeden Preis zu zahlen.
Attila glaubte
ihm und nahm sein Heer vom Balkan zurück.
Ein Jahr verging.
Doch die Griechen hatten nichts dazugelernt. Alles begann von neuem.
Griechische und römische christliche Agenten schlichen sich wieder bei den
Kiptschak ein, stifteten Verwirrung und streuten Gerüchte aus. Byzanz
wurde eine abermalige Lehre erteilt. Diesmal war Attila härter. Er schlug
die byzantinische Armee aufs Haupt, so dass sie keine einzige Chance hatte,
sich zu retten.
Natürlich
war das ein Bruderkrieg! Die Föderaten unter den Kiptschak, die Byzanz
dienten und zum Christentum übergewechselt waren, erhoben die Hand gegen
ihre Brüder, welche Tengri-Anhänger waren – und mussten das schwer
bereuen.
Attila
rückte an die Mauern von Konstantinopel heran.
Die Hauptstadt
von Byzanz ergab sich dem Sieger auf Gnade und Ungnade.
Die Kiptschak
besetzten die wehrlose Stadt nicht, sie brauchten sie nicht. Sie brauchten auch
Byzanz nicht. Es ist erstaunlich: In der ganzen Geschichte der Großen
Völkerwanderung unterwarf sich das Turkvolk kein einziges anderes Volk,
eroberte kein einziges Land. Seine Angehörigen besiedelten nur neue
Gebiete und bauten dort ihre Städte.
Attila brauchte
vor den Mauern von Konstantinopel nicht lange zu warten: Die Byzantiner
sammelten rasch ihre Tributschulden – beinahe zweieinhalb Tonnen Gold! Die
Kiptschak erlegten ihnen einen neuen Tribut auf und verließen Byzanz.
Kaum hatte sich
der Staub auf ihrem Weg gelegt, da begannen die Griechen alles von neuem. Sie
hatten die Lehre nicht beherzigt. Ihnen halfen Christen, betörende
Schönheiten und teure Geschenke, vor allem aber die Fähigkeit der
Griechen, geduldig Ränke zu schmieden. Alles wurde aufs Spiel gesetzt.
Diesmal entschied der Dolch den Streit zwischen beiden herrschenden
Brüdern.
Attila blieb
allein auf dem Thron. Aber für das Blut seines Bruders, richtiger,
für den ihnen beiden aufgezwungenen Streit, rächte er sich furchtbar
und durfte wieder Gabel und Messer benutzen. (Nach der turkischen Sitte
benutzte man in dem Haus, auf dem ungerächtes Blut lastete, beim Essen
weder Gabel noch Messer.)
Über Attilas
weiteren Feldzug gegen Byzanz (in den Jahren 447 – 448) ist leider so gut wie
nichts bekannt. Alles ist dahingeschwunden, selbst die geringste
Erwähnung. Bekannt ist lediglich, dass Byzanz überaus schwere
Verluste erlitt und dass all seine Städte dem Erdboden gleichgemacht
wurden. Aber wie verlief der Krieg? Welche Schlachten wurden geschlagen und wo?
Das ist nicht bekannt, alle Zeugnisse sind vernichtet.
Die Griechen
mussten ihre volle Niederlage zugeben und verließen den Nordbalkan. Dort
blieben turkische Truppen. Die Grenze von Descht-i-Kiptschak näherte sich
unmittelbar der Mittelmeerküste und Konstantinopel.
Das Turkvolk, wie es der Byzantiner Priskos sah
Man schrieb das
Jahr 449. Der Sturm in Europa schien sich gelegt zu haben. Attila ließ
Gnade vor Ungnade ergehen. Zu jener Zeit begab sich eine Delegation zu ihm, der
auch der byzantinische Beamte Priskos angehörte. Die Delegation reiste an,
um Frieden zu suchen, Frieden um jeden Preis zu erreichen.
In seinem Bericht
schrieb Priskos: „Nachdem wir einige Flüsse überquert hatten, kamen
wir in einer gigantischen Siedlung an, in der sich Attilas Palast befand.“
Wie hieß
jene Siedlung? Das ist ungewiss. Möglicherweise war das Preslaw, die alte
Hauptstadt Bulgariens. Oder eine altertümliche Stadt in Bayern. Wie dem
auch sei, das war eine neue turkische Stadt mitten in Europa, entstanden
gleichzeitig mit der Großen Völkerwanderung.
Der Grieche war
über das, was er sah, verblüfft. Die Europäer bauten solche
Städte nicht. Besonders beeindruckt war er von Attilas Palast. Aus runden
Balken gebaut und mit reich geschnitzten Fensterrahmen geschmückt, schien
der Palast über der Erde zu schweben und Licht auszustrahlen, so fein
gearbeitet war er. Seine hohen Giebeldächer ragten hoch in den Himmel.
Neben dem
großen Palast befand sich ein kleinerer, darin wohnte die Herrscherin
Kreki. Dieser Bau erweckte den Eindruck, als sei er aus Spitzen gewoben,
Schnitzereien machten aus ihm ein lichtes Märchen.
Um die
Paläste des Herrschers und der Herrscherin zog sich ein hoher Zaun mit
schlanken Wachtürmen.
Lange stand
Priskos da, bezaubert von diesem nie gesehenen Wunder aus Holz. Er hatte keine
Worte, konnte es nur stumm bewundern. Der Grieche betrat den Palast, es war ihm
jedoch ein Rätsel, wie Balken so gelegt werden konnten, dass das
Gebäude rund aussah. Dabei schien es nur rund, in Wirklichkeit war er
achteckig. Das war die traditionelle Bauart des Turkvolkes. So hatte es seine
achteckigen Kurens schon im Alten Altai gebaut.
Der Palast
(Terem) ist im Grunde ein Kuren, nur eben höher und etwas anders gebaut.
„Der Boden ist
mit Wollteppichen ausgelegt, über die man ging“, schrieb Priskos. Das
stimmt. Die Kiptschak legten den Boden ihrer Wohnstätten stets mit
Läufern oder Filzteppichen aus – ebenfalls eine sehr alte Tradition.
Der Byzantiner
war sehr wissbegierig und ließ keine Kleinigkeiten der Lebensweise der
Kiptschak außer Acht. Er beschrieb, womit sie sich befassten, was sie am
Leibe trugen, was sie aßen; nichts entging seinem Auge, dem Auge eines
erfahrenen Spions (denn das war Priskos in Wirklichkeit). Einen kleinen Mann
hätte man nicht ohne weiteres mit der Delegation reisen lassen.
Über die
Schönheit der turkischen Frauen war Priskos angenehm überrascht,
ebenso wie über ihre saubere, strenge Kleidung, ganz besonders ihre meist
mit langen Fransen und Quasten geschmückten Tücher. Die Kiptschak
fertigten weiße Tücher gewöhnlich für den Kirchgang oder
für die Trauer, bunte dagegen für den Alltag und auch für Feste
an.
Man sollte
meinen, der Bericht des Byzantiners sei völlig klar, man brauche ihn nur
einigermaßen aufmerksam zu lesen. Aber nein, der Terem z. B., in dem die
Herrscherin Kreki wohnte und den Priskos erstmalig beim Turkvolk sah, wird
jetzt „griechisch“ genannt. Angeblich hatten die Griechen Terems erfunden. Die
Erfindung von Filz wird den Franzosen zugeschrieben, die von Tüchern noch
jemand anderem. Dabei sind sie seit Jahrhunderten ein Gut des Turkvolkes.
Im Grunde
charakterisierten all diese Gebrauchsgegenstände die Kultur der Kiptschak
in Europa, sie prägten das Antlitz des Volkes, machten es erkennbar und
unverwechselbar.
Und die
Kiptschak? Wie standen sie selbst zur offensichtlichen Fälschung ihrer
Geschichte? Nun, sie verhielten sich neutral dazu, sie blieben, was sie waren:
Angehörige des Turkvolkes, Menschen offenen Herzens, die allen alles zu
verzeihen bereit waren. Ein Angehöriger des Turkvolkes ist unfähig,
einen Groll auf jemanden zu hegen, vermag nicht, sich entschieden
durchzusetzen, und verschiebt alles auf später. Das ist nun einmal seine
Art. Er weiß, dass die Wahrheit trotzdem siegen wird. Und damit lebt er.
Attila lud die
Delegation mit Priskos zu einem Festessen ein, und dies nach so vielen
Vergiftungsversuchen und Anschlägen auf sein Leben. Ist das nicht beredt
genug? Es handelte sich dabei nicht um eine großzügige Geste,
sondern um eine natürliche turkische Sitte. Ein Kiptschak, der einen Gast
nicht aufnimmt, bedeckt sich mit Schande. Attila lud Priskos zum Essen ein, es
konnte einfach nicht anders sein.
Durchtriebene
Politiker nutzten schon damals die Offenherzigkeit des Turkvolkes, seine
Anständigkeit und Gastfreundlichkeit aus. Sie verfolgten dabei
natürlich ihre eigennützigen Ziele. Die Kiptschak aber boten ihnen
vertrauensselig ihre Blößen und machten sich dadurch verwundbar.
Dadurch schwächten sie Descht-i-Kiptschak.
Schuld daran ist
niemand, höchstens der Charakter des Volkes. Er lässt sich nicht
durch einen Erlass verändern, er bleibt in den Zeiten unveränderlich,
weil man ihn mit der Muttermilch einsaugt und weil er sich in Jahrhunderten
herausbildet. So manche Tradition hätte man gewiss noch in der Zeit der
Großen Völkerwanderung verändern sollen, denn in Europa war ein
anderes Sozium, eine andere Kultur, foglich hätte man dort auch anders,
gemäß einer anderen Moral, leben sollen. Niemand dachte jedoch
daran, und ihre Kurzsichtigkeit mussten die Khans der Kiptschak teuer bezahlen.
Es heißt ja nicht zufällig, dass man in ein fremdes Haus nicht mit
eigenen Gewohnheiten und Sitten einzieht. Europa aber war damals immerhin ein
fremdes Haus für das Turkvolk und wandelte es um.
… Die Räume,
in denen getafelt wurde, dufteten nach frischem Holz. Längs der Wände
standen breite Bänke, vor ihnen massive Tische aus Eichenholz. Attila
saß der Tafel vor. Sein Ehrenplatz (Thron) hieß „Twer“ und war mit
feinen bunten Vorhängen verdeckt. Auf einer Stufe neben ihm saß
Attilas ältester Sohn Ellak. Er saß da, die Augen niedergeschlagen,
und berührte das Essen nicht, denn er war jeden Augenblick bereit, dem
Vater einen Dienst, eine Gefälligkeit zu erweisen.
Seinem Vater zu
helfen ist Ehrensache eines Sohnes. Damit lebten die Kiptschak, auch hierin
äußerte sich ihre Natur. Die Unterordnung unter einen Älteren
war bedingungslos, weil der Ältere seinerseits nach der Adat
(Gewohnheitsrecht) die Pflicht hatte, einen Jüngeren zu schützen. Es
bestand ein ganzes Verhaltensritual für die Tafel und auch sonst für
das tägliche Leben.
Vor dem Essen
„beteten sie zu Gott“, schrieb Priskos. Erst nach dem Gebet gingen sie ans
Essen. Gebetet wurde unter Anleitung eines Geistlichen. Er hieß Vater
Orest und stellt eine sehr rätselhafte Persönlichkeit in der
Geschichte Europas dar.
Er kannte die
europäischen Sprachen ausgezeichnet, war eine Zierde seiner Zeit.
Erstaunlich ist der Lebensweg dieses Menschen. Es gibt zwei Versionen davon.
Nach der einen war er Attilas Beichtvater, nach der anderen Sekretär und
Dolmetscher. Geboren wurde er in Descht-i-Kiptschak (im heutigen
Österreich oder Ungarn). Gehörte er zum Turkvolk? Nichts weist auf
das Gegenteil hin – außer der Behauptung der römischen
Geschichtsschreiber, er sei ein geborener Römer gewesen.
Hätte Attila
einen Fremdländischen in seine Nähe aufnehmen können? Ihm seine
tiefsten Gedanken und Gefühle anvertrauen? Ihn als seinen Botschafter nach
Konstantinopel entsenden? Niemals. Ein Beichtvater steht einem Gläubigen
sehr nah, ihm vertraut man unbedingt und in allem, er ist Mentor und
älterer Freund.
Bemerkenswert
ist, dass Orest, gleich vielen aus Attilas naher Umgebung, nach dessen Tod eine
glänzende Karriere in Rom machte. Dort gab es bereits viele
Angehörige des Turkvolkes, sowohl im Kaiserpalast als auch unter
Feldherren und Geistlichen. Das war eine Zeit der Wirren, eine Zeit von Komplotten,
Umstürzen und Meuchelmorden. In der römischen Gesellschaft gärte
es, als sie die Kiptschak bei sich aufnahm. Ein jeder suchte nach seinem Platz
in der Gesellschaft.
Mit der Ankunft
der Kiptschak wiederholte sich hier die Geschichte von Byzanz, auch hier begann
eine Vermischung von Kulturen und Völkern. Die Kiptschak unternahmen einen
Versuch, die Macht in ihre Hand zu nehmen. Das tat der schon erwähnte
Vater Orest, er stellte sich an die Spitze der Föderaten und brachte
seinen Sohn auf den römischen Thron, einen erstaunlich schönen jungen
Mann. Dieser nahm den lateinischen Namen Romulus Augustulus an, als er zum
Kaiser des Westlichen Kaiserreiches gekrönt wurde. Der letzte
römische Kaiser war also ein Kiptschak!
Am 5. September
476 wurde er von einem anderen Angehörigen des Turkvolkes, Odoaker,
gestürzt, der so dem Römischen Kaiserreich ein „offizielles“ Ende
setzte. Die Kiptschak, die um den römischen Thron gestritten hatten,
verloren ihn aus eigener Schuld.
Sehr
ungewöhnlich gestaltete sich auch der Lebensweg des Vaters des letzten
römischen Kaisers. Einer anderen Version zufolge „machten“ die Römer
Orest im Jahre 511, d. h. 35 Jahre nach seinem Tod (!)), zu einem Christen und
nannten ihn den heiligen Severinus. („Die Lebensbeschreibung des Heiligen Severinus“
ist ein ganzes Traktat, das sich aus lauter Widersprüchen zusammensetzt.)
Die
Aufzeichnungen des Griechen Priskos regen jeden vernünftigen Menschen zum
Nachdenken an. Die Ereignisse wollen sich nicht ins Prokrustesbett der
„offiziellen“ Geschichte zwängen.
Wie bei Attila
getafelt, was dabei getrunken, was gesprochen, wer ausgelacht wurde und wer wie
gekleidet war – über all das schrieb Priskos recht glaubwürdig.
Wie sich’s
gehörte, endete das Gelage mit einem Lied – jenem Lied, das die Seele
besser als jeder Wein berauscht. Ohne Lied ist ein Angehöriger des
Turkvolkes undenkbar, ob im 5. Jahrhundert, noch früher oder viel
später. Das ist nun einmal so, jedes Volk hat seine eigene Musik, wie es
seine eigene Sprache hat. Und die Geschichte hält das fest.
Musikanten kamen
und vollbrachten kleine Wunder. Unter ihren Fingern lebten die Saiten auf,
flogen die Bögen wie Schmetterlinge. Priskos benahm es den Atem. Er
hörte eine erstaunliche Musik und erblickte wundersame Musikinstrumente,
die die Griechen nicht kannten. (Es handelte sich um die Urahnen der heutigen
Cellos, Geigen, Harfen, Balalaikas und Ziehharmoniken.)
Nach den Liedern
erschien der Hofnarr und unterhielt die Gäste mit allerlei
Späßen. Attila lachte über seinen Narren zusammen mit allen
Anwesenden.
Ist es nicht so,
dass später die europäischen Könige aus dem Wunsch heraus, es
dem großen Attila gleichzutun, sich in ihren Palästen ebenfalls
Hofnarren hielten, die die Gäste bei Bällen belustigten und
unterhielten und den Königen die Wahrheit ins Gesicht sagten, was man
ihnen, als Narren eben, durchgehen ließ? Wohlgemerkt, es gab Narren nur
bei jenen königlichen Häusern, die turkische Wurzeln hatten. Die
Schotten oder die Römer z. B. hielten sich keine Narren, diese Tradition
existierte bei ihnen nicht.
Außerdem
vermerkte Priskos Attilas Bescheidenheit, die ihn verwunderte. Der Herrscher
lebte ganz schlicht. In seiner Kleidung und seinen Essgewohnheiten unterschied
er sich nicht von allen anderen.
Was den Feldherrn
auszeichnete, waren Menschen, die in ihm den Helden sahen und ihn bewunderten.
Attila wurde wegen seiner Taten und Handlungen ungewöhnlich hoch geachtet.
Seine Furchtlosigkeit und Weisheit ließen niemanden gleichgültig.
Auf der Jagd z. B. konnte es keiner mit ihm aufnehmen. Er jagte hoch zu Ross
und erlegte Eber, Elche und Bären im Reiten, wobei ihm eine Keule oder
eine Streitaxt als Waffe dienten.
Besonders gern
ging er auf die Beizjagd. „Sok-kol“ (vgl. das russ. sokol, Falke) bedeutet in der Turksprache „die Hand aufsuchen“, und
„ber-kut“ (vgl. russ. berkut, Königsadler)
bedeutet „Beute mitbringen“. Die Namen der Vögel sind sprechend genug. Das
gleiche bezieht sich auf „kortschu“ (vgl. russ. korschun, Geier), dieses Wort bedeutet „Schädling“, deshalb
nahm man Geier nicht auf die Jagd. Bei Attilas Hof dienten „Sokoltschi“ (vgl.
das russ. sokolnitschi,
Falkenmeister), Leute, die die Jagdvögel pflegten und abrichteten.
Andere Leute
lieferten wilde Bären für festliche Belustigungen. Sie fingen die
Tiere im Wald und beförderten sie in Käfigen in die Hauptstadt.
Bärenkämpfe waren eine beliebte Unterhaltung.
Ein wilder
Bär wurde in eine Umzäunung herausgelassen. Unter hitzigen Rufen des
Publikums trat ein Wagehals mit einem Jagdspieß oder einem Messer in der
Hand in die Umzäunung, wobei er ganz sorglos tat. Das Tier spürte die
Nähe des Todes, konnte ihn jedoch nicht abwenden. Schließlich hielt
es nicht mehr aus und … Die Versammelten erstarrten vor Spannung. Wütend
stürzte sich der Bär auf den Menschen, der aber trieb ihm im Nu das
Messer bis zum Griff ins Herz. Der Sieger wurde mit Ovationen gefeiert.
Beliebt war beim
Turkvolk der Kampf mit Gurtbändern, ohne diesen nationalen Kampf gab es
kein Fest. Der Siegerpreis war ein Hammel. Eine sehr alte Tradition!
Auch der
Faustkampf war populär. Bei all dem handelte es sich um keinen Wettbewerb,
keinen Sport, vielmehr um ein geheiligtes Ritual, das immer zum Charakter des
Turkvolkes gehörte. Jeder konnte hervortreten, um seine Portion Adrenalin
zu bekommen und seine Kraft zu demonstrieren. Die Kiptschak veranstalteten
schon als Kinder Faustkämpfe, um sich im offenen Kampf zu prüfen. Da
wetteiferten Häuser und Straßen miteinander. Auf diese Weise wurden
auch Streitigkeiten geschlichtet: Aug in Aug mit dem Gegner, nur du und er!
In der
Gesellschaft bestand das Faustrecht, und es wurde befolgt und gefürchtet.
Man schlug sich entweder Reihe gegen Reihe oder zu zweit, bis zum ersten Blut
und streng nach den Regeln. Wer gegen die Regeln verstieß, konnte sofort,
auf der Stelle getötet werden. Und niemand war berechtigt, sich für
diesen gerechten Mord zu rächen.
Im Leben der
Kiptschak gab es viel Freude und zahlreiche Feste. Nach einem geglückten
Feldzug veranstaltete man ein beliebtes Spiel: Die Reiter nahmen nicht ihre
Säbel, sondern lange krumme Knüppel in die Hand und trieben damit den
in ein Ledersack gesteckten Kopf eines besiegten Feindes über das Feld.
Ein großartiges Siegesspiel!
Dieses wilde
Spiel besteht bis heute und heißt Polo. (Beliebt ist es bei den
Engländern, weil ihre Ahnen mit Attila auf die Inseln kamen.) Allerdings
lässt man heute nicht der abgeschlagene Kopf eines Feindes über das
Feld rollen, wie das einst geschah, sondern eine Holzkugel. Aber immer noch
nach den alten Regeln.
Ebenso wie ein
Volk, sterben die Traditionen nie ab. Was abstirbt, sind die Erinnerungen.
Die Schlacht gegen die vereinigte Armee Europas
Der Delegation,
der Priskos angehörte, zeigte Attila absichtlich kalte Schulter. Jede
seiner Gesten verriet, dass es sich nicht gerade um willkommene Gäste
handelte. Der um ihn überhand nehmende Betrug war für ihn
unannehmbar. Der große Kiptschak wusste seit langem, dass Politik
eigentlich die Kunst der Lüge war. Er konnte sich jedoch mit dieser
hässlichen Norm, die in Europa bestand, nicht abfinden. Sie war für
ihn inakzeptabel.
Er lebte nach
anderen Regeln, in Übereinstimmung mit einer anderen politischen Kultur.
Seine Moral war anders. Die Kiptschak wuchsen in der Überzeugung auf, dass
Betrug keinen Vorteil bringe und nur zur Schande gereiche. Auch damals sah
Attila, dass die Christen ihm die besten Krieger abwarben. Sie taten das
unverhohlen und frech. Er zeigte ihnen die Listen und verlangte die
Auslieferung der Verräter. Aber heuchlerisch lächelnd, stritten die
Europäer alles ab.
Der Herrscher der
Kiptschak war in Verhandlungen nicht geübt, denn für Politik war er
ein viel zu ehrlicher Mensch. Er sprach offen mit den Abgesandten. Diese
verstanden das als Attilas Schwäche und spotteten über ihn.
Im Grunde gab es
nichts zu verhandeln, alles war ohnehin klar. Ihm wurden die Armee und die
Feldherren abgeworben. Natürlich konnte Attila das nicht hinnehmen. Aber
das war noch halb so schlimm.
Viel schlimmer
war, dass die Menschen zu gehen gezwungen waren. Ihr Weggang war unabwendbar,
weder durch Erlasse noch durch Hinrichtungen oder Drohungen aufzuhalten, weil
er in der Natur der menschlichen Gesellschaft lag. Denn die Gesellschaft setzt
ihre zahlenmäßige Stärke selbst fest. Auf welche Weise? Das ist
ein weiteres noch nicht erforschtes ethnografisches Geheimnis.
Talentierte
Menschen verlassen ihr Land meist nicht des Geldes wegen, sondern in der
Hoffnung auf Macht und berufliches Vorwärtskommen. Weil sie in der Heimat
weder auf die eine noch auf das andere Aussichten hatten.
Die Kiptschak
hassten Rom und machten kein Hehl aus ihrem Hass. Dennoch zogen sie aus, um
einem fremden Land zu dienen. Einer der Überläufer schrieb z. B. in
seinem Brief, er träume davon, selbst das Wort Römer auszulöschen und das Römische Reich zu einem
Reich der Kiptschak zu machen. Traurig fügte er jedoch hinzu: Aber das
Turkvolk habe sehr schlechte Gesetze. „Deshalb habe ich mich entschlossen, eine
möglichst baldige Wiedergeburt des Ruhmes von Rom in all seiner
Unerschütterlichkeit anzustreben“, und das auf Kosten des Turkvolkes,
schrieb er abschließend.
Das ist eine
Tragödie, und die Kiptschak mussten sie erleben: Der
Bevölkerungszuwachs brachte ihnen giftige Früchte. Sie waren nun zu
viele auf der Welt, selbst das riesige Descht-i-Kiptschak war ihnen bereits zu
eng. Die Gesellschaft war außerstande, ihre begabten Söhne zu
behalten, ihnen ein gebührendes und angemessenes Leben zu bieten. Ein Volk
kann hundert Weise oder tausend talentierte Feldherren gleichzeitig haben. Aber
sie sind dann beschäftigungslos.
Gebraucht wird
nur ein Weiser und ein guter Feldherr (höchstens zwei oder drei, aber
nicht hundert und schon gar nicht tausend Feldherren). Ebenso wenig können
hundert große Dichter nebeneinander bestehen. Man wird müde sein,
ihnen zuzuhören. Ein Überfluss an Talenten ist eine ebenso
große Tragödie einer Gesellschaft wie ihr Mangel. Das erlebten nun
die Kiptschak.
Den Römern
und Griechen dagegen mangelte es an Talenten. Das heidnische Europa war
längst hoffnungslos alt, brauchte frisches Blut, das seine Kultur erneuern
sollte. Deshalb nahm es Überläufer gern auf, bot ihnen ausgezeichnete
Bedingungen, selbst wenn es etwas opfern musste. Rom z. B. ging im Jahre 380
sogar zu dem für seine Gesellschaft erniedrigenden griechischen
Christentum über. Das war eine Verzweiflungstat. Die Römer wussten
nämlich, dass die Kiptschak Verbündete der Christen waren. Auf diese
Weise ebneten sie sich den Weg zur turkischen Welt.
Und das Turkvolk,
dieses vertrauensselige, vom Schicksal begnadete Volk? Seine Angehörigen
saßen im Sattel, ohne die Binde zu spüren, die ihnen die Augen immer
dichter verschloss. Sie bemerkten nicht, was sich um sie herum abspielte, und
lebten in den Tag hinein. Früher oder später mussten die Aussiedler
aus Descht-i-Kiptschak zeigen, dass in ihren Adern das Blut der Kiptschak
floss.
Von ihnen
erfuhren die Römer von der altertümlichen turkischen Sitte (Atalyk),
die Kinder zur Erziehung in andere Familien wegzugeben. So schickten sie
Aëtius, den Nachkommen eines adeligen römischen Geschlechts, zu
Attila. Attila nannte ihn seinen jüngeren Bruder und lehrte ihn, wie die
Sitte das verlangte. Als die Zeit kam, kehrte Aëtius als erfahrener Mann
in die Heimat zurück. Er wurde General, dann Feldherr der römischen
Armee. Niemand im ganzen Westlichen Kaiserreich kannte die Kiptschak besser als
er: Schließlich war er Attilas Schüler!
Ohne sich zu
schonen, hetzte Aëtius dann die turkischen Herrscher gegeneinander auf,
verleumdete den einen in den Augen eines anderen, warb Kiptschak ab, forderte
Feldherren, Geistliche und einfache Menschen auf, zu ihm zu kommen. Er schenkte
ihnen fruchtbare Ländereien und große Güter, verteilte hohe
Posten und Titel unter ihnen, tat sehr viel für sie, weil er die
Tragödie der Talente des Turkvolkes früher als dieses selbst erkannt
hatte. Er entdeckte die Schwachstelle und verstand es, sie zugunsten Roms
auszunutzen. Er kämpfte gegen das Turkvolk mit den Händen von dessen
Angehörigen.
Wer war
Aëtius? In der Gesellschaft der Kiptschak fühlte er sich sehr sicher,
was kein Wunder war. Sein Vater Gaudentius stammte aus dem Turkvolk, war
Befehlshaber (Magister) der römischen Reiterei, und seine Mutter Itala war
Römerin, eine „adlige und reiche Frau“, wie Zeitgnossen über sie
schrieben. Aus dieser Ehe ging ein böses Genie hervor.
Gallien (heutiges
Frankreich) verwandelte sich dank den Bemühungen von Aëtius in ein
richtiges Königreich von Überläufern. Dort lebten tausende
Kiptschak-Familien, und alles erinnerte dort an das Turkvolk. Selbst der Name
der Hauptstadt, das einem Angehörigen des Turkvolkes vertraut in den Ohren
klingende Wort Toulouse.
Attila forderte
von der Delegation von Priskos, ihm diese Verräter auszuliefern. Er wusste
nicht, dass man einen Fluss nicht zu seiner Quelle zurückzwingen kann, und
verlangte etwas Unerfüllbares. Er führte hunderte Namen auf,
erwähnte dabei Toulouse (Tolosa) und andere Städte, in denen sich die
Überläufer aufhielten. Vergebens.
Die
Aufklärung der Kiptschak arbeitete eifrig. So stellte sie z. B. fest, dass
auch die gallische Stadt Aurelians auf turkische Art in Orleans umbenannt
worden war. (Solche Umbenennungen sind unvermeidlich, Einwanderer passen sich
ein fremdes Wort an, um es sich vertraut zu machen.)
Die Botschaft von
Priskos stritt alles ab, selbst die Entstehung neuer turkischer Städte in
Gallien. Attila war außer sich und jagte die Lügner aus seinem
Palast fort.
Inzwischen nahmen
die Ereignisse eine für die Kiptschak äußerst ungünstige
Wendung. Die Feinde zogen die Sache in die Länge, damit Aëtius Zeit
bekam, eine vereinigte Armee Europas aufzustellen. Sie rechneten mit einem
Überraschungsschlag. Aber sie hatten sich verrechnet.
Attila fiel
selbst in Gallien ein, Toulouse und Orleans zogen ihn an. Dort erwartete man
den Einfall nicht und war nicht darauf vorbereitet.
Beim bloßen
Anblick der Kreuzfahnen und des Reiterheeres verloren die Übersiedler und
ganz Gallien ihre Ruhe. Das Gericht über die Verräter war kurz und
gerecht. Ihm wurde nicht einmal Widerstand geleistet. Die Überläufer
wussten, dass Verrat für einen Kiptschak die schwerste Sünde war. Die
Steppenbewohner konnten alles vergeben, nur nicht Verrat und Feigheit.
Bittere Stunden
der Reue und Sühne … Schon in Orleans, als Attila die Abrechnung zu Ende
geführt hatte, berichtete man ihm, dass die römischen Truppen zum
Kampf ausgerückt waren und dass Aëtius den Krieg erklärt hatte.
Eine vage Ahnung stieg in Attila auf. Betrug und Argwohn quälten ihn schon
lange. Er wandte sich an einen Wahrsager.
Nach altem Brauch
wurde ein Hammel geschlachtet. Als der Wahrsager einen Blick auf das
Schulterblatt des Tieres warf, schauderte er zusammen und prophezeite Attila
ein Unheil. (Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Wahrsager ein Geschenk aus
Rom bekommen hatte.)
So war
Aëtius schon vor Kampfbeginn der Sieger. Ihm gelang die Nervenattacke: Er
machte Attila unsicher.
Doch das war
Aëtius’ einziger Sieg, er hatte sich viel zu früh gefreut und viel zu
eilig gehandelt, als er in die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, einer
berühmten Ebene der Champagne, zog.
Die Gegend war
zwar für die Reiter ungünstig, aber Attila nahm die für ihn
unvorteilhaften Bedingungen hin; vielleicht bestand seine Absicht darin, die
Wachsamkeit des Gegners einzuschläfern. Dennoch überkamen ihn
düstere Ahnungen. Mit einem Male schien es Attila, man habe ihm die
Kampfbedingungen aufgezwungen und er habe sie gegen seinen Willen angenommen.
Von Zweifeln
befallen, blickte der Feldherr lange zum Himmel, aber der Himmel schwieg. Die
Nacht vor der Schlacht verlief stumm. Am frühen Morgen stellten sich die
Truppen auf, Attila aber wurde immer noch von Zweifeln gepeinigt.
Schließlich sagte er: „Flucht ist trauriger als Untergang.“ Trotz seiner
inneren Zerrissenheit ging er zu seinem Ross. Die Sonne stand bereits hoch am
Himmel.
Mit einem
Hurraruf setzten die Reiter zum Angriff an. Doch hatte Aëtius, ein
Zögling Attilas, alles richtig kalkuliert. Der Angriff blieb stecken, das
turkische Heer wurde zurückgeworfen. Attila, der die Bitternis einer
Niederlage kennen lernen musste, fühlte plötzlich Ruhe. Tengri sei
Dank: In jener Minute errang er einen Sieg über sich selbst.
Er ritt zur
Truppe hinaus und fand die nötigen Worte. Sein reiner Geist gebar reine
Worte, sie klangen wie das Lied eines niedersausenden Säbels. Die Worte
des Feldherrn entflammten die Kiptschak zu neuen Taten.
„Verteidigung ist
ein Zeichen der Angst. Mutig ist, wer den Schlag führt. Rache ist eine
großartige Gabe der Natur. Wer zum Sieg schreitet, den verfehlen die
Pfeile. Wer nicht mitkämpft, wenn Attila kämpft, ist schon begraben.“
Mit diesen Worten schloss er seine kurze Ansprache.
„Saryn
kjotschak!“ („Ruhm den Mutigen!“), rief der große Kiptschak und schlug
mit seinem Säbel ein Kreuz über sein Heer. Seine Worte
übertönte ein ohrenbetäubendes Hurra, was in der Sprache der
Kiptschak so viel wie „schlag zu“, „triff ihn“ bedeutet.
Im Nu entstand
ein Getümmel. Das helle Licht des Sieges erstrahlte über den Katalaunischen
Feldern. Die Sonne spiegelte sich in den Säbeln der Kiptschak und erhellte
ihnen den Weg. Diesmal wurde die Schlacht gegen die vereinigte Armee Europas
schonungslos geschlagen. Erst in der Nacht kehrten Tengris Boten, müde,
aber zufrieden, in ihr Lager zurück.
Am Morgen
ließ Attila, großmütig wie er war, die Reste der Armee von
Aëtius von dannen gehen. Aber der Feind darf nicht geschont werden. Die
Römer sahen in der edlen Geste eine Schwäche der Kiptschak. Ihre
Historiker schrieben später, Attila sei in der Schlacht auf den
Katalaunischen Feldern besiegt worden.
So endet die
Barmherzigkeit auf dem Schlachtfeld!
Attila konnte all
das natürlich nicht wissen. Wie hätte er von Ereignissen erfahren
können, die Jahrhunderte später geschehen sollten? Der Feldherr
führte sein Heer gegen Rom, wobei er unterwegs die Städte
Norditaliens, in denen nun Angehörige des Turkvolkes lebten, dem Erdboden
gleichmachte. Besonders schwer traf es Mailand, einen weiteren Zufluchtsort der
turkischen Überläufer.
Bald erreichte
Attilas Heer die fernen Zugänge nach Rom. Die „besiegten“ Kiptschak kamen
mit wehenden Fahnen nach Rom! Sie wurden vom Adel mit Bischof Leo an der Spitze
empfangen. Die Römer flehten Attila an, sie zu verschonen, sie wussten um
die Güte der Kiptschak, wussten, dass jene mitleidsvoll und nicht
nachtragend waren. Der Papst von Rom kniete sogar vor Attila. Dieses Treffen
ist auf einem Gemälde von Raffael dargestellt, das im Vatikan aufbewahrt
wird.
Sicherlich waren
es nicht die Tränen des Feindes, die die Kiptschak zum Stehen brachten,
und nicht einmal die Lüge, in Italien sei die Pest ausgebrochen. Was sie
zum Stehen brachte, war das Kreuz, das ein römischer Bischof emporhielt.
Ein Tengri-Kreuz!
Die Reiter sahen darin den Willen des Himmels. Rom hob ein turkisches Heiligtum
hoch und erkannte somit die Macht von Descht-i-Kiptschak an. Der Krieg war zu
Ende.
Attila begab sich
auf den Rückweg. Der Anblick des besiegten Feindes bereitete ihm keine
Freude.
Attilas Tod
Und doch
überlisteten sie ihn, dreist und hinterhältig zugleich. Nicht
endgültig geschlagene Feinde sind gerade dadurch gefährlich, dass sie
zu allem, selbst zu der größten Niedertracht, fähig sind.
Moralische Hindernisse gibt es für sie nicht, vor nichts machen sie Halt.
Wie kam die
schöne Ildiko zu Attila? Das wusste niemand. Der Feldherr erblickte das
schöne junge Mädchen und verliebte sich in sie. Er war ein Mann mit
heißem Herzen. Die Hochzeitsfeier dauerte die ganze Nacht. Am Morgen aber
bemerkten die Wachen, dass Attila viel zu lange im Schlafraum blieb. Sie
warteten bis zum Mittag. Verdächtige Stille herrschte in den Räumen
des Herrschers.
Da brachen sie
die Tür auf und stürmten ins Zimmer. Ein schrecklicher Anblick bot
sich ihnen: Der Feldherr lag in einer Blutlache, während die Schöne
starr wie eine Statue daneben saß. War sein Tod ein Zufall? Keinesfalls.
In jener Nacht erschien dem byzantinischen Kaiser Markianos in Konstantinopel
Attilas gebrochener Bogen im Schlaf. Das war ein böses Omen.
Im Leben kommt es
schon vor, dass Schlafträume in Erfüllung gehen. Aber angesichts der
vielen Versuche der Griechen, Attila zu vergiften, fällt es schwer, seinen
Tod für einen Zufall zu halten. Ein vorbereiteter Mord? Ja doch, was denn
sonst?
Vor Kummer
schienen die Menschen von Descht-i-Kiptschak den Kopf verloren zu haben. Der
dumme Tod ihres Führers brachte sie um ihre Kraft. Trauer herrschte in den
Städten und Dörfern. Die Frauen zogen zum Zeichen der Trauer
weiße Kleider an und lösten ihre Haare auf. Die Männer schnitten
sich, wie es die Sitte verlangte, Haarbüschel ab und ritzten sich tiefe
Narben in die Wangen. Der unbesiegbare Krieger war tot! Es galt, seinen Tod
nicht nur zu beweinen, sondern auch eigenes Blut zu vergießen.
Im Feld wurde ein
Zelt aufgeschlagen, dorthin brachte man die sterblichen Überreste des
Führers. Die besten Reiter kreisten Tag und Nacht um das Zelt, um das
Andenken des großen Angehörigen des Turkvolkes zu ehren.
Nach der
Beweinung fand neben dem Zelt eine grandiose Gedenkfeier statt. Ein wilder,
beinahe unmenschlicher Anblick: tiefe Trauer um den Verstorbenen und zugleich
ein wüstes Gelage. Ein verblüffender Ritus. Wenn ein Herrscher in die
andere Welt eingeht, muss er sehen: Der Wohlstand, den er seinem Volk gesichert
hatte, bleibt auch nach seinem Tod da. Das Leben geht weiter.
Spät in der
Nacht wurde Attila beerdigt.
Er hatte drei
Särge, einen aus Gold, einen aus Silber und einen aus Eisen. In den Sarg
legte man auch die Waffen des Feldherrn und seine Orden, die er zu seinen
Lebzeiten nie getragen hatte.
Wo Attila
begraben ist, weiß niemand. Alle, die dem Begräbnis beiwohnten,
wurden ermordet. Sie gingen ruhigen Herzens in die andere Welt ein, um auch
dort ihrem Herrscher zu dienen.
Die Trauertage
der Kiptschak waren den Römern und Griechen ein Fest. Die Feinde freuten
sich unverhohlen über Attilas Tod. Nun ging es ihnen darum, ein
Zerwürfnis unter den Erben zu stiften und abzuwarten, bis die Kiptschak
entkräftet und endgültig geschwächt waren.
Attilas
ältester Sohn, Ellak, war der gesetzliche Thronfolger. Man verleumdete und
erbitterte ihn. Ein Hader brach aus.
Die Kiptschak
schienen sich selbst die schlimmsten Feinde zu sein. Die Brüder
bekämpften einander, ein Stammeshader brach aus. Das war ein Krieg aller
gegen alle (der Kummer verblendete die Menschen und ließ sie den Kopf
verlieren). Als Ellak in einem Kampf getötet wurde, wussten die
römischen Politiker, Prediger und Legionäre, was sie weiter zu tun
hatten, nämlich zu teilen und zu trennen: die Schwachen zu
unterstützen, den Starken in die Hand zu fallen. Vor allem aber
möglichst viel zu verleumden und Gerüchte auszustreuen.
Ein Gerücht,
eine falsche Beschuldigung sind die beste Waffe gegen das Turkvolk, das
Übrige erledigt es im Kampf gegen sich selbst von allein. Auf diese Weise,
mit einem grausamen und langwierigen Bruderkrieg, endete die Große
Völkerwanderung: Ein Volk, das eine enorme zahlenmäßige
Stärke erreicht hatte, vernichtete sich selbst.
Dennoch war das
Ergebnis jener Jahre für die turkische Kultur nicht traurig. Eher schon
überraschend, ja etwas paradox. Damals, d. h. gegen das Ende des 5.
Jahrhunderts, besiedelten die Kiptschak bereits halb Europa und ganz
Zentralasien. Die Turksprache übertönte auf dem eurasischen Kontinent
jede andere. Das Turkvolk war zahlenmäßig das stärkste Volk der
Welt.
Ja, sie
kämpften untereinander, waren mitunter von unterschiedlichem Glauben,
strebten eine andere Kultur an, doch stammten sie sämtlich aus dem Altai.
In ihren Adern floss das Blut des Turkvolkes. Und das vereinigte sie, und wenn
sie auch noch so unterschiedlich waren, für immer.
Das wäre
wohl das Hauptergebnis der Großen Völkerwanderung. Aus einem
einzigen Volk gingen zahlreiche andere Völker hervor.
Ein neues Descht-i-Kiptschak
Gleich dem
Kuschanreich, zerfiel auch das riesige Descht-i-Kiptschak. Austrasien,
Allemanien, Bayern, Burgund, Böhmen – viele neue turkische Staaten
bildeten sich damals in Europa heraus (nicht geringer war ihre Zahl auch in
Asien). Das blutende Descht-i-Kiptschak war in Scherben gegangen.
Einige turkische
Länder nannten sich Königreiche, dort galten die römischen
Gesetze, wie z. B. im Westgotenreich. Dagegen nannten sich Länder, in
denen nach wie vor die Kultur des Orients vorherrschte, Kaganate. Dort
regierten Kagans, die unter den Khans gewählt wurden.
Die Wahlen
verliefen, wie erhalten gebliebene Nachrichten bezeugen, auf folgende Weise.
Die Angehörigen des Turkvolkes ließen den künftigen Herrscher
auf einem weißen Teppich Platz nehmen, dann wurde er um eine Kirche oder
einen heiligen Ort herumgetragen (neunmal nach dem Sonnenkreis). Darauf wurde
dem Auserwählten ein Strick um den Hals gelegt und zugezogen. Kurz bevor
er das Bewusstsein verlor, fragte man ihn: „Wieviel Jahre kannst du Kagan
sein?“ So viel er sagte, so lange regierte er.
Die Wahlen
endeten mit einem massierten Raub. Ausgeraubt wurde der Kagan, und das
gründlich. Der Ritus hieß „khan talau“ (Ausrauben des Khans) und
hatte einen tiefen Sinn: So zeigte man dem Herrscher, dass er von nun an vom
Volke unterhalten werde. (Bemerkenswert: Die Sitte „khan talau“ bestand noch lange
in Europa; im Mittelalter z. B. wurden nach der Wahl jedes neuen Papstes von
Rom die Vorratslager der Westlichen Kirche ausgeraubt.)
Bisweilen
erfolgte die Wahl anders. Die Khans warfen einen heiligen Stab nach oben, aber
so, dass er mit der Spitze in einem auf der Erde gezogenen Kreis landen sollte.
Wer das schaffte, dem half also Tengri.
Am Ausgang des 5.
Jahrhunderts wurde der Herrscher des Kaganats Austrasien gewählt. Das war ein neuer turkischer Staat in
Mitteleuropa. Er nahm die Gebiete ein, die am weitesten westlich vom Altai
lagen: das heutige Frankreich, Luxemburg, Belgien, die Schweiz, einen Teil
Spaniens und Süddeutschlands sowie Österreich. Dort lebten
Angehörige des Turkvolkes.
Später als
Austrasien bildete sich das Kaganat Awarien
heraus, es lag östlich davon, auf dem Territorium, das heute
Tschechien, Ungarn, Polen, Litauen, Lettland, einige Teile Deutschlands und
Kroatiens einnehmen. Auch dort lebten Angehörige des Turkvolkes, die
während der Großen Völkerwanderung hergezogen waren.
Das Kaganat Ukraine nahm beinahe das ganze
Territorium der heutigen Ukraine und einen Teil Mittelrusslands bis zur Moskwa
ein.
Südlich der
Ukraine befand sich das Kaganat Großbulgarien.
In einem weiten Bogen umfasste es die Schwarzmeerküste, einen Teil des
heutigen Bulgariens, Rumäniens und Jugoslawiens, einen Teil
Südrusslands und der Ukraine. Auch diese Lande waren von Angehörigen
des Turkvolkes besiedelt, die einst aus dem Altai gekommen waren.
Der ganze
Kaukasus und die ganze Don-Steppe gehörten zum Kaganat der Chasaren.
Die Gebiete am
Idel bildeten das Kaganat Bulgarien.
Die Altai-Steppe
vom Fluss Jaik bis zum Baikalsee hieß Sibirien.
Im Norden lag wie
ein vereinzelter Stern das östlichste Land des Turkvolkes, Sacha, das eigentümlichste der
Kaganate.
Dennoch waren die
Symbole jedes neuen Landes die gleichen: ein Reiter und die Fahne mit dem
gleichseitigen Kreuz wie zu Attilas Zeiten. Die Menschen beteten nach wie vor
zu Tengri, und immer noch war der Ewige Blaue Himmel über ihren
Köpfen.
Das übrige
Europa betete zum gekreuzigten Christus, der auf Gemälden als Agnus Dei
(„Lamm Gottes“) dargestellt wurde.
Das blieb
für lange Zeit der Hauptunterschied zwischen den turkischen und
nichtturkischen Ländern in Europa, zwischen beiden entsprechenden
Kulturen.
* * *
Die Große Völkerwanderung hat für
immer tiefe Spuren hinterlassen. Auf der Karte ist zu sehen, wann, wo und zu
welcher Zeit sich Angehörige des Turkvolkes, denen der Alte Altai zu eng
geworden war, ansiedelten. Die Spuren eines großen Volkes verschwinden
nicht. Das zeigt u. a. unser Buch: Der Gestalter hat bekannte Musealien
herangezogen, ohne auch nur einen Strich hinzuzufügen. Denn wir meinen:
Über ein Volk berichten das Volk selbst und seine Kultur am besten.
Verzeichnis der
Illustrationen
Zu S. 9
Architektur des
alten Europa. Wien.
Zu S. 10 – 11
Handwerker
Altägyptens. Fragment einer Darstellung (Nachzeichnung). 3. Jahrtausend v.
u. Z.
Vogel.
Applikation auf einem Filzteppich. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von
Pasyryk, Altai.
Bronzegießen
in Altgriechenland. Detail einer Schale (Nachzeichnung). 6. Jh. v. u. Z.
Zu S. 12 – 13
Museumssaal.
Gemälde von P. Breughel „Der Turm zu Babel“. 16. Jh., Wien.
Stele mit
altertümlichen turkischen Runen. Vermutlich 3. Jh. v. u. Z. Talkessel bei
Minussinsk, Chakassien, Südsibirien.
Gleiche Runen auf
dem Denkmal „Großer Elling-Stein“. 10. Jh., Dänemark.
Zu S. 14 – 15
Gesichter von
Angehörigen des alten Turkvolkes:
Kuschanischer
Herrscher. Ton. 1. – 2. Jh. Chaltschajan, Usbekistan;
M. M. Gerassimows
Rekonstruktion nach einem in der Kenkol-Grabstätte gefundenen
Schädel. 1. Jh. Kirgisien;
Porträt
eines Unbekannten. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von
Pasyryk, Altai;
Plastik aus einem
Grab. Terrakotta. An der Wende zu unserer Zeitrechnung. Ujbat, Chakassien.
Zu S. 16 – 17
Der Reiter.
Felsbild. Vermutlich 1. Jahrtausend v. u. Z. Lena-Ufer, Sacha-Jakutien.
Chinesische
Darstellung von Angehörigen des alten Turkvolkes.
Fragment einer
Tätowierung. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Zu S. 18 – 19
Körpertätowierung
eines Herrschers. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Detail eines
Pferdegeschirrs. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Altai.
Altturkisches
Runenalphabet. 1. Jahrtausend v. u. Z.
Zu S. 20 – 21
Zaumschmuck.
Bronze. Vermutlich 5. Jh. v. u. Z. Semibratny-Hügelgräber,
nordkaukasische Steppen.
Runenstein.
Talkessel bei Minussinsk, Chakassien.
Turkischer
Krieger mit einer „pfeifenden“ Fahne. Fragment einer altertümlichen
Malerei (Nachzeichnung). China.
Zu S. 20 – 23
Rituelle
Felszeichnungen, die als Schutz galten. 2. Jahrtausend v. u. Z. Talkessel bei
Minussinsk, Chakassien.
Zu S. 24 – 25
Rituelle
Darstellung einer Elenkuh. Gravüre in Stein. 3. Jahrtausend v. u. Z.
Angara-Becken, Südsibirien.
Schützendes
Felsbild eines Stammes. 2. Jahrtausend v. u. Z. Talkessel bei Minussinsk,
Chakassien.
Speerspitze mit
altertümlichen turkischen Runen. 4. Jh. Ukrainische Steppen.
Von
Akademiemitglied A.P. Okladnikow gefundenes altertümliches Steinwerkzeug.
200 000 Jahre v. u. Z. Altai.
Zu S. 26 – 27
Altertümliche
Steinfigur.
Greif-Talisman.
Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Baschadar-Hügelgrab, Altai.
Zu S. 28 – 29
Axt eines
Herrschers (Streitaxt). Gold. Vermutlich 5. Jh. v. u. Z.
Kelermes-Hügelgrab, nordkaukasische Steppen.
Hahn als
Totemzeichen und Beschützer einer Sippe. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Sarkophag mit
Tierdarstellungen. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Baschadar-Hügelgrab,
Altai.
Zu S. 30 – 31
Struktur eines
Steppen-Kurgans (erläuterndes Schema). Steinstele. 2. Jahrtausend v. u. Z.
Talkessel bei Minussinsk, Chakassien.
Zu S. 32 – 33
Becher. Silber.
1. Jh. Ukrainische Steppen.
Landkarte.
Jenissej-Verlauf, aufgezeichnet von S.I. Remesow. Anfang des 18. Jh.
Zu S. 34 – 35
Altertümliche
Felszeichnungen und Runen-Inschriften. 1. Jahrtausend v. u. Z. Chakassien.
Grabstein in
Pabon-Cha. Tibet.
Zu S. 36 – 37
Tanne, der „Baum
des Lebens“. Felszeichnungen. 1. Jahrtausend v. u. Z. Wald in Sagyr,
Ostkasachstan.
Elch.
Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Zu S. 38 – 39
Berühmte
Stein-Babas, Bildhauerkunst des turkischen Altertums.
Speerspitze. 4.
Jh. Ukrainische Steppen.
Zu S. 40 – 41
Schmelzofen. An
der Wende zu unserer Zeitrechnung. Altai.
Bildnis eines
Angehörigen des alten Turkvolkes. Stickerei. An der Wende zu unserer
Zeitrechnung. Noinulin-Hügelgräber, Nordmongolei.
Zu S. 42 – 43
Eine der
zahlreichen Gesser-Darstellungen. Tibet.
Eisenmeteorit.
Aus der Sammlung eines Museums in Wien.
Zu S. 44 – 45
Becher. Gold. 4.
Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Zu S. 46 – 47
Detail eines
Halsschmuckes. Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Tolstaja Mogila, Ukraine.
Zu S. 48 – 49
Szenen aus dem
Leben des Turkvolkes. Detail eines Bechers (Nachzeichnung). 4. Jh. v. u. Z.
Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Ein Reiter im Kampf
gegen unberittene Krieger. Detail eines Kammes. Gold. 4. Jh. v. u. Z.
Hügelgrab Solocha, Ukraine.
Zu S. 50 – 51
Drache, der
Beschützer des Turkvolkes, bzw. ein stilisierter Greif. Stickerei auf
Seide. An der Wende zu unserer Zeitrechnung. Noinulin-Hügelgräber,
Nordmondolei.
Kämpfer mit
einer „Wolfsstandarte“ (Fahne in Form eines Wolfs). Beinschnitzerei.
Grabstätte von Orlat.
Fabeltier.
Fragment einer Tätowierung. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von
Pasyryk, Altai.
Zu S. 52 – 53
Rosskopf und
Sattel. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Ein
Steigbügel. Chakassien.
Reitendes Pferd.
Fragment eines altertümlichen Basreliefs.
Zu S. 54 – 55
Geflügeltes
Ross. Detail einer Amphora. Silber, Vergoldung. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab
von Tschertomlyk, ukrainische Steppen.
Zu S. 56 – 57
Symbolische
Darstellung einer Großtat von Dshargan (Hl. Georg). Vermutlich Ende des
4. Jh. Gravüre in Stein. Dagestan.
Das ewig
leuchtende Tengri-Zeichen. Gold. 6. – 7. Jh. Fund aus einem Hügelgrab in
den Steppen von Dagestan.
Turkische
Geistliche. Felszeichnung. 1. Jahrtausend v. u. Z. Altai.
Zu S. 58 – 59
Betende Frauen.
Fragment eines Gobelins. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk,
Altai.
Turkischer
Prediger vor einem Tempel. Altertümliche Felszeichnung. Pakistan.
Zu S. 60 – 61
Elenkopf im
Schnabel eines Greifs als rituelles Zeichen. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Die Große
Chinesische Mauer. 3. Jh. v. u. Z.
Kämpfer-Figurinen.
Terrakotta. 3. Jh. v. u. Z. Museum in der Provinz Shenxi, China.
Zu S. 62 – 63
Hängebrücke.
Pamir.
Herrscher der
Nag. Fragment eines Basreliefs. 4. Jh. v. u. Z. Indien.
Zu S. 64 – 65
Eine Nag-Frau.
Fragment eines Basreliefs. 4. Jh. v. u. Z. Indien.
Turkischer
Krieger. Bronze. 2. Jh. Iran.
Zu S. 66 – 67
Altertümliche
Reiter. Fragment eines Basreliefs in Persepolis. 5. Jh. v. u. Z. Iran.
Prediger des
Tengri-Glaubens. Gold. Vermutlich 4. Jh. v. u. Z. Schatz vom Amu-Darja.
Zu S. 68 – 69
Belagerung einer
heidnischen Festung. Fragment einer Schale. Silber. Anikowski-Schatz.
Mausoleum von
Arab-ata. Innenansicht. Typisches Beispiel der turkischen Architektur: Kuppel
über einem achteckigen Ziegelgebäude. Usbekistan.
Rhyton in Form
eines Widders. Silber. 5. Jh. v. u. Z. Semibratny-Hügelgräber,
nordkaukasische Steppen.
Zu S. 70 – 71
Kaftan eines
Khans (Rekonstruktion). Mit Goldplatten benähtes Leder. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgrab Issyk, Kasachstan.
Reiter. Fragment
einer Stickerei. An der Wende zu unserer Zeitrechnung.
Noinulin-Hügelgräber, Nordmongolei.
Zu S. 72 – 73
„Kuschanische“
Runen. Teil der Inschrift im Tempel zu Ehren von Khan Erke (Herrscher
Kanischka). Stein. 2. Jh. Surchkotal, Nordafghanistan.
Ruinen einer
altertümlichen turkischen Kirche und Festung Koi-Krylgan-Kala. 3. Jh. v.
u. Z. Choresm, Usbekistan.
Geflügelte Tiere
bzw. „Urahnen“ der turkischen Schimären. Detail eines Altars im
Siebenstromgebiet. Bronze. Vermutlich 4. Jh. v. u. Z. Kasachstan.
Zu S. 74 – 75
Kopf eines
turkischen Kriegers. Ton. 2. Jh. Chaltschajan, Usbekistan.
Dolch in
Goldscheide. An der Wende zu unserer Zeitrechnung. Grabstätte von
Tilla-Tepe, Afghanistan.
Schema einer
Grabstätte in Tilla-Tepe.
Turkischer
Krieger der Saken-Epoche. Fragment eines Basreliefs. Nagardschunikonda, Indien.
Zu S. 76 – 77
Münze von
Khan Erke (Herrscher Kanischka).
Statue von Khan
Erke (Herrscher Kanischka). Roter Sandstein. 1. – 2. Jh. Museum in Mathura,
Indien.
Treppe eines
Tempels zu Ehren von Khan Erke (Herrscher Kanischka). 2. – 3. Jh. Surchkotal, Afghanistan.
Zu S. 78 – 79
Münze von
Khan Erke (Herrscher Kanischka), Revers.
Basrelief-Detail
in einem Palast. Stein. 2. Jh. Ajrtam, Usbekistan.
Lautenistin.
Detail eines Basreliefs. Stein. 2. Jh. Ajrtam, Usbekistan.
Zu S. 80 – 81
Buddhistisches
Heiligtum (Sita-Tara). Bronze.
Der
größte Schatz des Buddhismus, Wadschra (Tengri-Zeichen).
Seitenansicht des „Kreuzes“.
Wadschra am
Tempel des buddhistischen Klosters Erdeni-Dsu. Mongolei.
Geflügelter
Löwe mit Schlangenschwanz. Sandstein. 2. Jh. Mathura, Indien.
Zu S. 82 – 83
Detail eines
Halsschmuckes. Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Tolstaja Mogila, Ukraine.
Zu S. 84 – 85
Radfahrzeug,
Urform der Britschka. Holz. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk,
Altai.
Radfahrzeug.
Schmuck. Gold. Schatz vom Amu-Darja.
Zu S. 86 – 87
Heiliger Berg
Kailassa des alten Turkvolkes. Himalaja.
Rhyton in Form
eines Widders. Silber. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Ausgrabungen in
einem Hügelgrab. Zeichnung von 1864.
Zu S. 88 – 89
Überfall
eines Greifs. Filzapplikation. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von
Pasyryk, Altai.
Öllampe vor
einem Heiligenbild. Bronze. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab von Tschertomlyk,
Ukraine.
Zu S. 90 – 91
Ausgrabungen in
einem Hügelgrab. Zeichnung von 1864.
Tanzende Frau.
Goldplatte. Hügelgrab Bolschaja Blisniza, nordkaukasische Steppen.
Überfall
eines Greifs. Fragment einer Applikation. Filz. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Ansicht der
Ausgrabungen im fünften Hügelgrab von Pasyryk.
Zu S. 92 – 93
Khan (die Ehefrau
eines Khans?) auf dem Thron. Fragment eines Filzteppichs mit Applikationen. 5.
Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Schüssel in
Form eines Tischchens mit abnehmbaren Beinen. Holz. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Zu S. 94 – 95
Reiter. Fragment
eines Filzteppichs mit Applikationen. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von
Pasyryk, Altai.
Krüge am
Meeresufer. Komposition.
Zu S. 96 – 97
Reiter.
Zeichnung. Dura-Europos, Irak.
Halsschmuck mit
Reiterfiguren. Gold,
Email. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab
Kul-Oba, Ukraine.
Drache. Detail
eines Schmuckes. Gold, Granuliertechnik, eingelegte Granate. 5. Jh.
Prähistorische Siedlung von Karjash, Nordkaukasien.
Elenstein.
Zu S. 98
Überfall von
Greifen. Detail eines Halsschmuckes. Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab
Tolstaja Mogila, Ukraine.
Schwertknauf.
Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab von Tschertomlyk, Ukraine.
Ruinen der alten
turkischen Burg Teschik-kala. Choresm, Usbekistan.
Zu S. 100 – 101
Verfolgungsszene.
Fragment eines Basreliefs. Stein. 1. Jahrtausend v. u. Z. Iran.
Wasserschleuder
in Form eines Löwen (Kopie). Stein. Orta-Kapy-Tor, Derbent, Daghestan.
Zitadelle
(Naryn-Kala), Westtor. Derbent, Daghestan.
Orta-Kapy-Tor.
Derbent, Daghestan.
Zu S. 102 – 103
Derbent im Jahre
1796. Zeichnung aus E. Eichwalds Buch. Deutschland.
Reliquiar,
heiliges Behältnis zur Aufbewahrung von Reliquien.
Zu S. 104 – 105
Achtamar-Kirche
zum heiligen Kreuz. Basrelief. Türkei.
Treppe von
Orta-Kapy. Derbent, Dagestan.
Altertümlicher
turkischer Tempel nach Ausgrabungen. Anfang des 4. Jh. Derbent, Dagestan.
M. Schongauer.
„Die große Kreuztragung“. Kupferstich. 15. Jh.
Zu S. 106 – 107
Ruinen einer
altertümlichen Kirche. Armenien.
Römische
Legionäre. Marmor. 2. Jh. Aus einer Louvre-Sammlung, Paris.
Zu S. 108
Chorug
(christliche Kirchenfahne) des Turkvolkes.
Detail des
Patriarchenstabs des Katholikos der Armenischen Kirche.
Zu S. 110 – 111
A. Dürer.
Die vier Reiter. Holzschnitt zur „Apokalypse“. 15. Jh.
Zu S. 112 – 113
Grundriss der
Kathedrale von Etschmiadsin, ein Beispiel der turkischen sakralen Architektur.
Fundament in vorgeschriebener Kreuzform. Anfang des 4. Jh. Armenien.
Grundriss einer
Kirche in Garni, gebaut vor dem Einzug des Turkvolkes, ein Beispiel der
europäischen Architektur jener Zeit. 2. Jh. Armenien.
Kirche von Garni.
Zeichnerische Rekonstruktion.
Kloster Kiranz,
ein Beispiel der den Kiptschak eigenen berühmten Zeltbauweise. Armenien.
S. 114 – 115
Kirchenruine.
Darstellung eines Bauarbeiters. Basrelief, Stein. 7. Jh. Armenien.
Symbolisches
Schenken einer Kirche als Gabe des Turkvolkes an die christliche Gemeinde.
Stein. Kloster Achpat, Armenien.
Schema der Kathedrale
von Etschmiadsin nach dem Umbau im 5. und im 7. Jh. Armenien.
S. 116 – 117
Entgegennahme des
lebenspendenden Tengri-Zeichens (Adshi), heute Kreuzerhöhnung genannt.
Dschwari-(Kreuz-)Kirche, Mzcheta, Georgien.
Zu S. 118
Hl. Georg. Detail
der Kuppel der Kirche zum Hl. Georg. Mosaik. Ende des 4. Jh. Saloniki,
Griechenland.
Zu S. 120 – 121
Sarkophag mit der
Darstellung des Triumphes von Konstantin. Rosa Porphyr. 4. Jh. Aus
den Vatikan-Sammlungen, Rom
Hagia Sophia,
Innenansicht. Umgebaut im 6. Jh. Istanbul (Konstantinopel), Turkei.
Kaiser
Konstantins Kopf. Marmor.
4. Jh. Rom.
Kirche San
Vitale, ein Beispiel der turkischen Architektur: Zeltbauweise, achteckiger
Grundriss. Anfang des gotischen Stils. 6. Jh. Ravenna, Norditalien.
Zu S. 122 – 123
Mosaik im
Großen Palast von Konstantinopel, ein Beispiel des turkischen
(„barbarischen“) Einflusses auf die Kunst von Byzanz. 5. – 6. Jh. Istanbul
(Konstantinopel), Türkei.
Frau mit Krug.
Detail des Mosaikbodens im Großen Palast von Konstantinopel, ein Beispiel
der griechischen Kunst. 5. – 6. Jh. Istanbul (Konstantinopel), Türkei.
Theoderichs
Grabmal. 6. Jh. Ravenna, Norditalien.
St.
Georgs-Rotunde, eine der ersten nach dem Beispiel der turkischen Kunst in
Europa gebauten Kirchen. 4. Jh. Saloniki, Griechenland.
Zu S. 124 – 125
Eine
unschätzbare Reliquie der Hagia Sophia. Mosaik. Istanbul (Konstantinopel),
Türkei.
Zu S. 126 – 127
Beßschatyr-Hügelgräber.
Kasachstan.
Schwerer
turkischer Bogen.
Fisch als Zeichen
des Altertums in der turkischen religiösen Kultur. Gold. 4. Jh.
v. u. Z. Ukraine.
Zu S. 129
Figur eines
Jünglings. Details eines Kandelabers. Bronze. 5. Jh. v. u. Z.
Nymphäische Hügelgräber, Ukraine.
Reiter.
Wandmalerei. China.
Zweikampf. Detail
einer Schale. Silber. 7. Jh.
Frauenfigur.
Detail eines altertümlichen Spiegels. Bronze. 5. Jh. v. u. Z. Ukraine.
Zu S. 130 – 131
Figur eines
Jünglings. Detail eines Kandelabers. Bronze. 5. Jh. v. u. Z.
Nymphäische Hügelgräber, Ukraine.
Kandelaber.
Bronze. 5. Jh. v. u. Z. Nymphäische Hügelgräber, Ukraine.
Hammel im Rachen
eines Wolfes. Vermutlich Zeichen einer Opferung. Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u.
Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Bogendurchgang.
Derbent, Dagestan.
Gefäß.
Silber, Vergoldung. 4. Jh. Aus einer Ermitage-Sammlung.
Ruinen einer
altertümlichen Stadt. Rumänien.
Zu S. 132 – 133
Engel des
Himmels, Boten aus dem Altai. Detail eines Armbands. Gold, Bronze, Email. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Steinbock als
Zaumschmuck. Holz. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Zu S. 134 – 135
Kupferleuchter.
Kasachstan.
Innenansicht
einer mittelalterlichen Burg. Typisches Beispiel des turkischen Einflusses auf
die Kultur Europas. Österreich.
Pferdeschmuck.
Horn. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Zu S. 136 – 137
Kapitolinische
Wölfin, nach Restauration. Bronze. Rom.
Säule.
Ruinen einer altertümlichen europäischen Stadt.
Zu S. 138 – 139
Löwenkopf.
Detail eines Halsschmuckes. Gold, Email. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab
Bolschaja Blisniza, nordkaukasische Steppen.
Fragment des
Fußes einer griechischen Statue. Marmor.
Details des
turkischen Schmuckes. Gold, Email. 4. Jh. v. u. Z. Aus den
Hügelgräbern der Ukraine.
Zu S. 140 – 141
Griechische Vase.
Keramik. Aus einer Ermitage-Sammlung.
Altertümlicher
Schild. 5. Jh. v. u. Z. Tuektin-Hügelgrab, Altai.
Aus einer
Schlacht ziehende Krieger. Detail einer Goldplatte (Nachzeichnung). Aus der
Sibirischen Sammlung Peters I.
Helm eines Khans.
Bronze. Kekuwatski-Kurgan, Ukraine.
Zu S. 142 – 143
Amazone. Bronze.
3. Jh. v. u. Z. Ukraine.
Goldschale. 4.
Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Säbelgriff
mit deutlicher turkischer Symbolik.
Zu S. 144
Altes
Gebäude mit Tengri-Zeichen. Frankreich.
Schlange, Symbol
der Weisheit. Marmor. Museum in Constanţa, Rumänien.
Zu S. 146 – 147
Der Große
Attila. Detail einer Vase. Silber. St.-Miklos-Schatz, Nordrumänien.
Zu S. 148 – 149
Armspange in Form
einer Schlange. Gold. 5. Jh. v. u. Z. Semibratny-Hügelgräber,
nordkaukasische Steppen.
Schwan.
Gefäß. Blauer Marmor.
Köchereinfassung.
Detail. Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab bei Melitopol, Ukraine.
Zu S. 150 – 151
Zaumschmuck.
Bronze. 5. Jh. v. u. Z. Semibratny-Hügelgräber, nordkaukasische
Steppen.
Holzschnitzerei,
altertümliches Handwerk aus dem Altai.
Zu S. 152 – 153
Spitzen aus Holz
und Fantasie eines Künstlers.
Dreieckige Platte
mit Figuren. Gold. Karagodëuaschch, nordkaukasische Steppen.
Zu S. 154 – 155
Vorbereitung auf
Falkenjagd. Mosaik. 4. Jh.
Ein Gesicht.
Holzschnitzerei. 5. Jh. v. u. Z. Altai.
Detail des Dekors
eines alten Hauses. Holz. Tomsk.
Zu S. 156 – 157
Geschnitzter
Pfosten. Nachzeichnung. Holz. Dagestan.
Bär. 3.
Jahrtausend v. u. Z. Grabstätte von Samus, Sibirien.
Zu S. 158 und 161
Raffael.
Begegnung Leos I. mit Attila. 16. Jh. Freske „Stanza d’Eliodoro“, Vatikan.
Zu S. 162 – 163
Vase. Silber mit
Vergoldung. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Gaimanowa Mogila, Ukraine.
Rhyton. 4. Jh. v.
u. Z. Ukraine.
Weibliche
Tücke. Gravüre. Elfenbein. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba,
Ukraine.
Zu S. 164 – 165
Zwei
Schimären vom Sarkophag eines Khans. Gold. Hügelgrab Bolschaja Blisniza,
nordkaukasische Steppen.
Fabeltier, ein
Löwe. Gold. 5. Jh. v. u. Z. Kelermes-Hügelgrab, nordkaukasische
Steppen.
Verbrüderung.
Platte. Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, Ukraine.
Tänzerin.
Gold. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Bolschaja Blisniza, nordkaukasische
Steppen.
Zu S. 166-167
Weltkarte von
al-Idrissi. 1154.
Sphinx. Fragment
einer Applikation auf einem Filzteppich. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber
von Pasyryk, Altai.
Zu S. 168
Im Louvre. Paris,
Frankreich.
Zu S. 170 – 171
Schematische
Karte der Territorien, auf denen sich das Turkvolk ansiedelte.
Zu S. 175
Schmuck. Gold.
Sibirische Sammlungen Peters I.
Einband:
Vogel der Oberen
Welt, Zeichen der Einigung des Turkvolkes. Filz. 5. Jh. v. u. Z.
Hügelgräber von Pasyryk, Altai.
Sagenhafter
Reiter. Gold, Email. 4. Jh. v. u. Z. Hügelgrab Kul-Oba, ukrainische
Steppen.
Nachsatz:
Arba-basch-Teppich.
Farbige Ornamente auf Filz. 5. Jh. v. u. Z. Hügelgräber von Pasyryk,
Altai.